Lieder und Lues – Begleitmotive eines langen Jahrhunderts

Eine gemeinsame Veranstaltung Univ.-Doz. Dr. Herwig Swoboda (HNO KH Hietzing / NZ Rosenhügel) und Militärsuperior Dr. Harald Tripp (Militärpfarre beim Militärkdo Wien) im Ehrensaal der Invalidenhauskirche
24.01.2014

Ort: 1130 Wien, Fasangartengasse 101, Einfahrt Würzburggasse 8
Beginn: 18:00 Uhr

Das neunzehnte Jahrhundert ist durch die Zweite Wiener Medizinische Schule geprägt, die mit Karl Rokitanskys Lokalisationspathologie, Joseph Škodas klinischer Diagnostik, Ludwig Türcks neurologischer und laryngologischer Pionierleistung und Adam Politzers und Josef Grubers Otologie neben dem Körperinneren auch die Sinnesorgane und, mit Theodor Meynert, das Zentralnervensystem zu erschließen begann. Die progressive Paralyse, 1822 durch Antoine Bayle erstmals mit Organbefund beschrieben, wurde 1913 durch Hideyo Noguchi als Form tertiärer Lues (Syphilis) gesichert. Ab 1917 gelangen Julius Wagner-Jauregg erste Heilungserfolge (Nobelpreis 1927).

Gustave Flaubert, Sohn des Chirurgen Achille-Cléophas Flaubert in Rouen, schrieb: „Syphilis – davon ist mehr oder weniger jedermann befallen“. Alois Alzheimer (1864–1915) dissertierte 1888 über die Ohrenschmalzdrüsen, habilitierte sich 1904 über die progressive Paralyse und beschrieb 1906 die nach ihm benannte Demenzform.

Die hohe Durchseuchung schlug sich im Schicksal bekannter Künstler nieder: Allein in Österreich-Ungarn Franz Schubert, Nikolaus Lenau, Hans Makart, Jan Štursa und Hugo Wolf, um Betroffene aus jeder Kunstsparte zu nennen, im Ausland Charles Baudelaire, Édouard Manet und Guy de Maupassant.

Franz Schubert (Gretchen am Spinnrade 1814) und Hugo Wolf stecken die Hochblüte des gesellschaftspolitisch gleichermaßen relevanten Kunstlieds ab. Nach Erörterung der Modellerkrankung Neurolues, die ebenso viel publizistische wie medizinische Aufmerksamkeit auf sich zog und auch heute nicht vergessen werden sollte, werden Schlüsselwerke der Liedkomposition durch den aufstrebenden Bass Johannes Schwendiger und den am Mozarteum tätigen Pianisten Johannes Wilhelm vorgetragen. Der Ehrensaal der durch Vermittlung des Thronfolgers Franz Ferdinand 1908 bis 1910 errichteten Invalidenhauskirche bietet einen bewährten, dem Anlass gerechten Rahmen.

Beides – Infektionen, Syphilis als Krankheit der Künstler und das Lied als Kunstform – sind charakteristisch für die Bevölkerungsexplosion, die höhere soziale Durchlässigkeit und die erhöhte zivile und militärische Moblität (Napoleons Levée en masse) des 19. Jahrhunderts. Das vorwiegend deutsche Kunstlied als Widerstand gegen napoleonische Hegemonie und der bürgerliche Rückzugs ins Private sind Phänomene dieser Zeit. Nachfolger der progressiven Paralyse ist die Alzheimer-Demenz, deren Beschreiber Alois Alzheimer im Jahr 2014 150. Geburtstag hat.

Vorträge

Harald Tripp: Eröffnung – Der Fall Galilei
Wolfgang Graninger: Kohärente antiinfektiöse Therapie – HNO, Haut, Hirn
Herwig Swoboda: La cohérence perdue – Progressive Paralyse von Donizetti bis Wolf
Manfred Schmidbauer: La cohérence retrouvée – Wagner-Jaureggs Malariotherapie

Lieder

Robert Schumann – Dichterliebe, 1840
Hugo Wolf – Michelangelo-Lieder, 1897
Johannes Schwendinger, Bass, Johannes Wilhelm, Klavier
Im Anschluss wurde zu einer kleinen Agape in den Seminarraum gebeten.

hojos
im November 2013