November in Hietzing

Ein Artikel von Marie v. Glaser im Neuen Wiener Tagblatt

Zum drittenmale durchlebe ich nun den Hietzinger Spätherbst in diesem Hause, das auf dem Grund und Boden steht, der von Altwiener Erinnerungen überklungen ist: Wo einst das weltberühmte Dommayer war, haben die Hopfners, auch sie ein Stückchen Wiener Lokalgeschichte, wie ein Schmuckkästchen das Parkhotel hingestellt. Zu meinen Fenstern knistert das nun schon laubarme Geäst der Bäume herein, unter denen Großvater mit der Großmutter gesessen, da sie noch jung waren. Die Sonne scheint des Morgens ins Zimmer und vergoldet das wohlvertraute Bild vor diesen Fenstern. So ein Stückchen Heimat, wie es nicht viele gibt, wie wir es uns, selbst halb unbewusst, tief ins Herz geschlossen haben, dass Wir's mit uns tragen, wenn wir hinaus in die Fremde gehen. Schwer zu entscheiden, in welcher Beleuchtung der Hietzinger Platz mit seinem Kaiser Max von Mexiko-Denkmal vor der schlanken, gelbgetünchten, eintürmigen Kirche – noch eine Kirche gibt's, die, ich weiß nicht warum, ähnliche Empfindungen auslöst, und zwar die von Ischl – am intensivsten wirkt. Zeitlich am Tage, wenn sich rings um die Kirche und das halb versteckt Pfarrhaus – in einem dreieckigen Giebel trägt es fromme Insignien en relief – noch nichts regt, wenn in dem hellockerfarbenen Eckhaus der Bäcker- und der Kaufmannsladen sowie die schwarz-gelb gestreifte Tür der Tabaktrafik noch geschlossen sind – oder spät am Nachmittage, wenn drüben über den Schönbrunner Bäumen, ehe noch die Fünfuhrnebel kommen, die Sonne im rosahellen Abschiednehmen steht und einen Widerschein herüberschickt; oder wenn die Nebel schon da sind und sich zeigen, als wollten sie allerlei bizarre Tänze aufführen; oder des Abends, wenn die elektrischen Bogenlampen aufflammen und ein künstliches Mondlicht vorzaubern – oder in ruhiger, lautloser, unwahrscheinlich lautloser Nacht, wenn der wirkliche Mond sein Strahlenbündel blausilbern da verweht und die Kirchenuhr mit ihrem runden, selbstbewussten Gesicht hereinblinkt. Ihre Schläge allein künden dann, dass das Leben nicht stille steht. Man hat gut sagen, 13. Bezirk; das ist Hietzings amtliche Bezeichnung. Es ist aber doch noch immer ein wenig das Hietzing unserer Kindertage, wenn „die Linie“ auch gefallen ist, die uns damals immer so furchtbar bedeutungsvoll vorkam, als gelte es eine wirkliche Abgrenzung zu über­ schreiten und diesen wichtigen Schritt mit barer Münze zu bezahlen, und wenn auch dort, wo der „Hietzinger Stellwagen“ Fasholds mit den blauen Wachsleinwandsitzen seinen Standplatz hatte, jetzt die Autotaxis knattern. Diese wollen gar nicht herpassen, Automobile haben immer etwas Internationales an sich, sie sind das Esperanto des Verkehres – während der gute alte Stellwagen und der blitzblanke Fiaker – blitzblank der Wagen, die Rösser und der Lenker – nur Wien allein gehörten. Hier, wo noch vieles so brav und bieder geblieben, scheint alles österreichisch – österreichisch mit der weichen, warmen Note Wiens.

Weht's von Schönbrunn herüber?! Hat Hietzing seine ganze Besonderheit von dem kaiserlichen Lustschlosse her bekommen? Wenn dem so ist, so hat es sich zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ihm am engsten angeschmiegt und seine Blütezeit in den Kongresstagen erreicht. Von dem Schönbrunn Maria Theresias ist weniger da, oder ist es zurückgedrängt worden von der franziszeischen Zeit – ähnlich wie auch Baden vielfach gerade diesen Stempel trägt? Während in den Tagen der großen Kaiserin, die Schönbrunn als Jagdschloss in einem Wildpark übernahm, sich da noch freies Land dehnte, zeigte sich unter ihren Nachfolgern schon die Vorliebe für Ansiedlungen in dem Weichbilde Wiens, der Sinn und die Freude an der Villeggiatur. Schmucke Landhäuser baute man und umgab sie mit großen, schattigen Gärten, kleine freskenbemalte Gartentempel wurden errichtet, Blumen wurden gepflegt, und während draußen die Weltgeschichte donnerte und die Diplomatie ihr Konzert dazu machte, war's daheim um so beschaulicher: Kultur, Behaglichkeit, Wohlsein. Der Adel, die Esterhazys, Wengheims, ging mit dem Beispiel voran. Dann kamen die Pidoll und Malfatti, die sich in Hietzing niederließen; das vornehme Bürgertum folgte nach. Wenn man durch die langen, alleeartigen, heute noch dem Rauschen der Großstadt entrückten Straßen wandert und sich jedes Merkmals einer andern Zeit erfreut, das noch nicht irgendeinem grellen modernen Aufschrei hingeopfert wurde, fängt das Sinnen wie von selbst an. Hinter diesen hellen, meist gelblichen Fassaden mit den weißen Fensterläden und bronzebeschlagenen Haustoren – da eine schöne Klinke, dort ein Löwenkopf – in diesen Häusern, an denen nicht selten reizvolle Reliefs anmutiger Putten, musizierender Genien auffallen, in diesen Häusern, die noch so glatt und anheimelnd dastehen, denkt man sich Menschen gleicher Art, einen Hausrat, der den Lebensgewohnheiten dieser Menschen entspricht, Mahagonimöbel, gutgefüllte Wäschekasten, aus denen Lavendel duftet und goldgeblümtes Wiener Porzellan, mit dem der Jausentisch gedeckt ist. Es ist Mode geworden für die „gute alte Zeit“ zu schwärmen, ihre Menschen aber in ihren feinen, abgetönten Sitten kann man nicht mehr zurückbringen.

Manchesmal ist's in Hietzing, als glitten ihre Silhouetten noch umher. Dort, wo sich jetzt ein neues Villenviertel ausdehnt, auf den Gründen der späteren „Neuen Welt“, erhob sich die schlossartige Villa der Pereira; nahe daran grenzte der Park der Eskeles. In den Kongresstagen hielt hier wie eine Fürstin der Hautefinance die berühmte Flora v. Pereira-Arnstein haus. Fast unvermerkt und um so verdichteter versponnen sich da die Fäden, die Hof und Politik und Adel mit dem Wien des Geistes und des Geldes verbanden. Die Stadt mit ihren engen Basteien glänzte auf wie ein Edelstein in smaragdgrüner Umfassung, und draußen in Schönbrunn wurde Weltgeschichte gemacht. Vielleicht mehr im „Schön­brunner Stöckl“ noch als im Schlosse selbst. Dort wohnten des Reiches Kanzler seit Kaunitz. Und was haben diese Räume seither in ihrer gobelinumspannten Verschwiegen­heit, vor den spähenden Blicken der Zeitgenossen vor­ enthalten, von diesem Kaunitz bis zu Metternich, von Metternich bis zu Beust, von Beust und Anbrassy bis zu Aehrenthal.

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Und wieder sieht die Welt nach Schönbrunn, wo jetzt ein einsamer Kaiser Tag für Tag in geräuschloser Rastlosigkeit, ohne große Geste, selbstvergessen und unver­drossen seine Arbeit tut: Tag für Tag, wie seit sechzig und mehr Jahren. Wie er selbst als Mensch und als Regent von jener selbstverständlichen Vornehmheit ist, über die niemand viel Worte verliert, so ist die Wohnung, die er für sich in diesem großen Schloss in Anspruch nimmt, und so ist der Garten, den er für sich abgesondert hat, des „Kaisers Garten“. Aus den Zimmern – es sind deren vier, und ihre Fenster gehen hinaus in den großen Schlosshof, an dessen Eingang die Wache steht – gelangt der Kaiser über eine kleine Treppe unmittelbar hinab in diesen seinen Garten, der sich in der Richtung gegen Hietzing lang und schmal hinstreckt. Dort promeniert der Kaiser an milden Tagen. In seinem grauen Generalsmantel, ohne Säbel, die Kappe ein wenig ins Gesicht gerückt, geht der Kaiser eine knappe Stunde raschen Schrittes auf und ab, wie einer, der sich an das „Spazierengehen“ sein lebenlang nicht recht gewöhnen konnte, weil er seine Gedanken bei der am Schreibtisch zurückgelassenen Arbeit hat, und den es also eigentlich ein wenig ungeduldig macht, dass es mit zu seinen Tagespflichten gehört, da seine Zeit zu verlieren ... Und wenn man des „Kaisers Garten“ zu dem an Dimensionen verschwenderisch großen Park mit seinen zoologischen und botanischen Wundern vergleicht, den er, jahraus jahrein dem Publikum überlässt, so er­scheint diese bescheidene Promenade auf den bekiesten Wegen, zwischen den grünen „Salettelgängen“ wie das richtige Symbol für des Kaisers schlichte Art und die geringen Ansprüche, die er ans Leben und seine Annehmlichkeiten stellt.

Da und dort blickt noch eine letzte Rose in seinem Garten, und Efeuboskette glänzen dunkel dort, wo zur Sommerszeit farbenreiche Blumenbeete das Auge er­freuten. Eine merkwürdige, sanfte Ruhe aber liegt über dem Ganzen ausgebreitet, ein wirklicher Gartenfrieden. Und im angrenzenden Parke kommt die ganze Poesie des Spätherbstes zur Entfaltung. Es gibt Frauen, von denen man behaupten könnte, ihre Schönheit habe einen eigenen, wehmutsvollen Schmelz, bevor der Raureif des Alters sich auf sie niedersenkt; und dass sie edelstolze Linien annehmen in der Tapferkeit, mit der sie ihr letztes Sonnen verteidigen. Von der Natur ist das gewiss! Nie, nicht im Entstehen des ersten Frühlings, nicht im Hingeben an des Sommers Herrlichkeit, ist ihre Anmut eigenartiger als im schmerzhaften. Lächeln des Spätjahres. Nun hatten wir ja die große Totenfeier wieder. Dort wo Hietzing endet, diese lange, hügelansteigende Straße an der gelben Schlossgartenmauer führt zu ihm, liegt der Friedhof. Eine helle Straße ist es, die man da die Toten führt. Der Wiener ist anders in seinem Totenkultus als der Pariser – ganz anders als der Deutsche. Er hat da nicht die mondaine Anfärbung des einen, noch den düsteren Grundton des andern. Ach, ganz, ganz anders, ich wage es doch zu sagen, „gemütlich“ ist die Art, wie er seine Verstorbenen betrauert, und der Hietzinger Friedhof, wie ein Familiengarten der Toten, voller Bäume und voller Blumen, ist er da ausgebreitet. Auf den Leichensteinen – wie viele berühmte und bekannte Namen; in seinem alten Teil, welche moosverwachsenen Gräber und immergrünüberdeckten Kreuze darauf. Ein schönes Monument Canovas wurde einer Baronin Pillersdorf dort errichtet, ein Genius, der in der Hand einen Kranz hält. Dort auch ist die Grabstätte der Schmerlings; neben dem großen Anton, dem Staatsmann, der militärische Bruder Josef und der Mediziner Rainer – in nachbarlicher Nähe die ihnen verwandten Familien Bienerth und Koudelka. Auch Fanny Elßler hat ihr Plätzchen in diesem alten Teil des Gottesackers. Und was steht da auf dem schlichten, grauen Grabstein? „Franz Grillparzer.“ Terrassenförmig geht es weiter, und es ist nicht uninteressant, zu sehen, wie sich der zunehmende Sinn für Aufwand selbst hier bemerkbar macht. Während im alten Friedhofsteil viele stolze Namen – wie eben Grillparzer – auf einfachen, fast primitiven Denksteinen eingegraben sind, manche Berühmtheit unter einem Grashügel modert, weist der in jüngster Zeit belegte Teil neben Denkmälern von Künstlerhand prunkvolle Mausoleen auf. Auch der Hietzinger Friedhof ist geradezu in Mode gekommen, während es früher eigentlich die Wiener Bürgerfamilien für ihr Vorrecht hielten, dort zu ruhen. Die Generation, die vor uns war – und wie viele auch schon von unsrer, der eigensten – findet man da vereint; einen Anschnitt, um nicht zu sagen einen Abschnitt des Wiens des letzten Jahrhunderts. Sie trugen viel Blumen jetzt die lange helle Totenstraße hinauf, an den Gräbern fackelten die ersten Lichter. Ich meine, dort, wo man an einem lieben Grabe weint, dort ist man für immer daheim.

Quellen:
Neues Wiener Tagblatt, 3. November 1912

Übertragen von hojos
im Februar 2022