Vinzenz Jerabek - Vorwort von Josef Reitmeyer

im Buch "Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt"
22.01.1875

Der Wiener Heimatdichter Vinzenz Jerabek, bekannt als Verfasser echter Wiener Kurzgeschichten unter dem Namen J. Vinzenz, hatte 1956 mit dem Titel:

"Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt"
eine Sammlung seiner besten Erzählungen herausgegeben. Es war ein stattlicher Band von 400 Seiten und mit 5 Bildern von Bezugsobjekten Vinzenz' geworden.

Das von Josef Reitmeyer verfasste Vorwort lautet folgendermaßen:

"In den Fenstern des Erzbischöflichen Palais in Ober-St. Veit spiegelt sich die Morgensonne. Am Fuße des ehrwürdigen Gebäudes verrieselt das schäumende leben der Großstadt, das keine Zeit kennt, weil es nie Zeit hat. Darum schleichen die Geschwister Ruhelosigkeit und Rastlosigkeit durch die Gebüsche des heimeligen Platzes.

Morgenglocken laden zur Besinnung ein; in ihr Rufen jauchzt eine Amsel auf schwankem Aste ihr Morgenlied. Die Glocken und die Amsel, die haben Zeit. . .

Auf der Parkseite des Palais öffnet sich sachte ein Fenster. Ein Mann schaut in den morgenfrischen Park, ein alter St.- Veiter, vielleicht der älteste, und der hat auch Zeit und ist deshalb glücklich und zufrieden. In seinem schlohweißen Haar spielt der Morgenwind und sammelt die lieben Gedanken des Einsamen, die auf lang entschwundenen Wegen der Vergangenheit wandeln. Weißt du noch - denkst du noch daran, wie es war vor fünfzig, vor sechzig Jahren und noch früher?

Das gütige Herz des Mannes im Morgenlicht, der freundlich den eiligen Eichhörnchen zusieht und den Finken vor dem Fenster mit Namen ruft, dieses Herz hat den Menschen gar viele Erzählungen und Schilderungen aus vergangenen Tagen geschenkt. Geschichten aus St. Veit und anderen Wiener Vorstädten, meisterhafte Schilderungen, sind nun in vorliegendem Bande gesammelt, und wer noch ein bisschen Zeit hat und Anteil nimmt an dem Leben und Treiben seiner Vorfahren und ein Stück altes Wien kennenlernen will, dem wird dieses Buch ein lieber Freund in der Zeiten Unrast werden; die Stunde, die er ihm weiht, wird zu einer Oase der Freude, des Friedens, der echtesten Menschlichkeit, ja, er wird sie in diesem Buche finden und selig pflücken - die fast vergessene blaue Blume der Romantik - als köstlichstes Geschenk unseres lieben Meisters J. Vinzenz."

Quellen:
Jerabek, Vinzenz: "Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt".

Josef Reitmeyer
im Sommer 1956