Totenleuchten
Nach dem großen Mysterium des Lebens folgt das größere des Todes. Die von dieser Welt für immer Schieden, sind uns irgendwie verbunden geblieben. Trauer, Liebe, Ehrfurcht vor der Majestät des Geheimnisses, Grauen und Furcht – sie alle schufen innerhalb der Menschheit und der Jahrhunderte von den primitivsten Kulturstufen begonnen eine allgemeine, jeweilig in Besonderheiten gelöste Verehrung der Abgeschiedenen. Der ganze Totenkult oder Totendienst ist demnach ein Produkt des herrschenden Glaubens an einen Fortbestand der Seelen der Verstorbenen, ein Bekenntnis zum Mortalitätsprinzip, demzufolge diese Verstorbenen in einem anderen, unbekannten Sein in neuer Wandlung fortleben, die Stätten ihres einstigen Bestandes im leisen Schauer umstreifen, sich dem Irdischen nahen und neigen und den Hinterbliebenen Gutes oder Übles zufügen. Alle Formen der Totenverehrung resultieren aus dieser Verschiedenheit der Geistercharaktere, von der fahlen, schlottrigen, törichten Gespensterfurcht, die den niedrigsten Stufen der Menschheit zukommt, bis zum Sühne-und Erlösungsmotiv des den Tod besiegenden Christentums. Bei den kulturarmen Völkern herrscht also die Furcht vor. Sie verschließt den Ort der Toten mit düsterem Grauen, meidet und flieht ihn voll Bangen, versucht den Verstorbenen mit Gabe von Geschenken und Besitztum versöhnlich zu stimmen, greift in Qual voll verzerrter Angst zu List und Lüge – Lärm und Geschrei sollen den Geist bannen, eigens gebrochene Maueröffnungen, die nach Entfernung der Leiche wieder verschlossen werden, die Rückkehr des Gespenstes verhindern.
Die Kultur des Christentums weiß andere Wege. Das Grauen ist abgetan, und die Liebe bleibt bestehen. Es begleitet seine Toten zum Ort des Friedens, betet für sie, gedenkt ihrer und schmückt ihre Ruhestätten. Ein wundersam feines Verbundensein webt vom Leben des Jenseits herüber in den irdischen Bestand. Die Welt der Toten birgt im Sinn des Christentums kein Grauen mehr. Sie ruhen im Schoß der Erde, um einst an fernen Horizonten ihrer Läuterung und endlichen Lichterlösung entgegen zu gehen.
Allerseelen ist das große schwarzumrandete Fest ihres Gedenkens. Alle einstige blutwarme Liebe von Hand zu Hand, von Seele zu Seele findet ihren Ausdruck in Blumen und Lichtern – Blumen, die ihren Duft verströmen hinüber zu ihren Pforten, Lichter – warme wilde Brände, die hinunterstrahlen in die Dunkelheit der Scholle, in die Unlösbarkeit der Geheimnisse, in die Nacht des Versunkenseins.
Im Mittelalter waren es die Totenleuchten, jene Steinsäulen mit laternenartigem Aufsatz, welche auf Begräbnisplätzen und Kirchenhöfen errichtet wurden, die ihre ewigen Lampen und Armenseelenlichter zum Gedächtnis der Verstorbenen brannten.
Wir finden in deutschen Landen und in unserer engen Heimat prächtige Denkmale solch sinniger Totenehrung. So zeigt die dem Turm des romanischen Kirchleins in Dettwang bei Rothenburg östlich angegliederte Kapelle in der Südwand eine schöne gotische Totenleuchte, künstlerisch aus einem Stein gehauen. In der steinernen Laterne hielt eine brennende Öllampe die Totenwache, wenn ein verstorbener in der Totenkapelle aufgebahrt war.
Eine der schönsten gotischen Leuchten in Österreich ragt unter mannigfaltigen interessanten historischen Grabkreuzen auf dem Friedhof zu Radstadt empor. Sie wird „Schustersäule“ oder „Schusterstein“ benannt, da die Stifter biedere Schustersleute waren. In entzückender, stilreiner Gotik baut sich das Türmchen aus Quadern auf und weist folgende, schwer zu entziffernde Inschrift auf: „Konrad Tätzgern Erntrawt sein Hausfrau haben diesew Beleichtung gestiftet auf Wolfganng Hilprant Haws vunter der stadt zw lob got un alle(r) geglaubigen sellen 1513.“
Dieser Schustersäule an Formenschönheit ebenbürtig ist die Totenleuchte vor der Pfarrkirche zu Murau in Steiermark, welche 1510 vom Marktrichter Scherhackl gestiftet wurde. Viel Liebe und künstlerische Erfindungsfreude gibt sich in diesen kleinen, sinnigen Bauwerken des Mittelalters kund, die in einfacher, reiner Linienführung der Gotik oder in reicher reliefgeschmückter Gliederung gleicherweise das Auge entzücken. Und es mag wahrhaft ein gewisser Zauber von ihnen ausströmen, wenn im ungewissen Dämmer, im Zwielicht des Abends ihr säulenartiger Steinfuß dunkel, gleichsam aus dem Nichts auf wuchtet und das Flackerlicht der Laterne unsteten, geheimnisvollen Schein und Schatten auf Steinstufen oder Erde wirft. Bilder vom Totentanz werden lebendig. Krause fantastische Vorstellungen erwachen, umwuchern Geist und Vernunft, lodern in seltsam grotesken Flammen und Irrlichtern, um mit dem dumpfen Glockenschlag der Kirchenuhr je zu verlöschen – Dämonen des uralten Totenkults, die aus den Gräbern steigen wollten! – Aber Bann und Spuk ist vorüber. Und das Licht der Totenleuchte flackert nicht mehr, es brennt ruhig und schimmert nun in die eingebrochene Nacht mild und voll Versöhnung. Als Weiser eines Weges, der letzten Endes von jedem gegangen werden muss. Und das ist vielleicht der zweite tiefe Sinn der Totenleuchten: mahnender Zeiger am Kreuzgang der Vergänglichkeit. Das besagen auch die künstlerischen Ausschmückungen des Lichtträgers, geistliche Szenen darstellend.
Ein Beispiel hierfür die prächtige Totenleuchte vor der Stiftskirche zu Klosterneuburg, die kostbare Reliefs aus der Leidensgeschichte Christi aufweist. Sie wurde 1381 errichtet. Ungemein wirkungsvoll und imposant ist hier die Umrahmung, der bühnentiefe Raum des Stiftsplatzes mit dem Monumentalaufbau der gewaltigen Basilika, an Wucht und Eindruck gesteigert, wenn über die stromdurchflossene Ebene herüber Gewitterschlachten im Himmelsdonner aufziehen und ernste, mächtige Farben und Tinten auf den Steinquadern des Platzes lagern – da wird auch die Totenleuchte mit einmal gewaltig, gleichsam aus sich aufsteigend zu innerer Größe, das Mahnmotiv besonders unterstreichend.
Im Gegensatz hiezu ist die Gruppierung um das altehrwürdige Kirchlein in Penzing, lieblich von blühender Heimlichkeit erfüllt. Die Totenleuchte, wie ein Ruhe- und Sammelpunkt unbekannter Wege aus dem Irgendwo, still und schön in erhöhter Mitte eines freundlichen, trauten Vorstadtplätzchens. Ihr steinerner Heiland blickt in die Kirche, wenn Duft der Kerzen mit Orgelklang verwoben aus geöffneter Pforte fließen. Auch sie erzählt wie alle ihre Art von einstigen alten Tagen, von den Toten, die in blühender Jugend an ihr vorübergewandelt in Frühling und Glück des Augenblicks und denen letztlich ihr Armenseelenlicht geleuchtet.
Über den Toten, auf ihre Gräber herunterschauend, baut sich in ganz eigener Anlage aus einem Verbindungsbogen der Kirche die Totenleuchte zu Werfen. Sie wird eine der wenigen letzten sein, die im Steinsockel wie einst das Licht trägt, wenn die Schauer der Allerseelennacht über die allmählich erlöschen Gräber ziehen, eine der letzten, die in ihrem stummen, doch so bedeutungsvollen Zeichen besagen: Ihr, die ihr der Welt abhandengekommen, ihr ewigen Schläfer, ruhet, ruhet in Frieden!