Dorfidyllen in Wien

Auszug aus einem Text von Gottfried Julius Poitschek in "Der getreue Eckart", Monatsschrift für das deutsche Haus, Neunter Jahrgang, Teil 1
1932

... Und dann nähern wir uns auf unserer Wanderung im Auf- und Abgleiten der herbstlichen Wege dem weiten Wiental, das – der sinkenden Sonne nach – die ausgebreiteten Höhen des Wiener Waldes erklimmt und mit einem leichten verheißenden Bug endgültig von der Großstadt und dem freundlichen Kreis ihrer Vorstädte Abschied nimmt. Am anderen Ufer dieser Talfurche verleuchten mild die Kuppen und Waldböden des mauerumschlossenen Tiergartens. So nahe am Herzen einer Millionenstadt träumt dieses geradezu unersetzliche, unschätzbare Waldrevier in köstlicher feierlicher Ruhe, zieht das Wild ungestört durch seine Auen, harft der Herbstwind in den alten Baumkronen sein ernstes ewiges Lied.

Zur Linken atmet und wogt der Riesenleib der Stadt, ringen Menschen im steten Kampf mit jedem Tag und jeder Stunde um ihren Bestand. Hier draußen aber weitet sich die Landschaft voll Frieden und Anmut, öffnet der Wald als großer Befreier seine herrlichen Tore, und eine stille Demut  und große Weisheit webt in allen Gräsern und späten Blüten, da sie sich einfach und ergeben in ihren Herbst, in ihr Geschick fügen. Der zusammengeballte, zerrüttete, harte, kaum wohltönende Nervenakkord der Großstadt findet an ihren Rändern  und Säumen eine wohltätige Auflösung, eine glückliche Entwirrung und Befreiung.

Wer dort, wo die Großstadt zum Dorf wird, ein Fleckchen Erde, eine noch so winzige Hütte sein eigen nennt, sei glücklich und schreibe getrost darüber das gewichtige Wörtchen: Mein! Nicht aus Protzerstolz oder aufgeblähter Geltungssucht, nein, aus Liebe, aus Dankbarkeit, aus Anerkennung. Und wer sich mit erträumtem Besitz begnügt und begnügen will – um so besser! Der mag überall dort Hausherr und Eigentümer sein, wo es ihm gefällt. An Fülle des Lieblichen und Schönen ist gewiss kein Mangel. Das sehen wir alle am besten aus der Tatsache, dass Dichter und Musiker, Künstler und Gelehrte, Einsame und Träumer immer wieder angezogen wurden von dem geheimen Zauber, der aus den Wiener Vorstädten bricht. Mag sich auch manches im Zeichen des notharten heutigen Großstadtlebens nicht gerade zum Bessern geändert haben, dieser Zauber ist erhalten geblieben. Wir finden ihn wieder, wenn wir am Schlusse unserer Herbstwanderung durch die malerische Dörflichkeit von Ober-St. Veit ziehen und im Bereich seines reizenden weithinthronenden Kirchleins im alten Schloss die Spuren einstiger erzbischöflicher Pracht erkennen. Über die schiefen Holzzähne der alten Zäune wuchert grüner Blust und glühendes Weinlaub, quellen reife lockende Früchte.

Wir aber dürfen noch bleiben und sein im umbuschten Idyll; es sind unsichtbare gute Hände, die uns leise mit zarter Gewalt fassen, Blicke, die festhalten und sagen: Bleib! Du wirst kaum irgendwo inniger behütet sein.

Viel Kindheit und Erinnerung an diese verbirgt sich in dieser bunten holden Wirrnis von Gassen, Höfen, Gärten und Vorstadtplätzchen. Viele Wege sind es, die wir einmal gingen im Frühling, im Glück, im unbewussten, frohklingenden Ja zu allem, was das Leben nur bringen mag. Darum sind sie uns so traut und unvergessen; darum vermag kein Herbst uns das zu rauben, was daran teuer ist und bleibt. Seine dunklen Schatten bewirken vielleicht, dass wir diese Gänge ins große Dorf der Großstadt langsamer und wehmütiger tun, aber gerade deshalb inhaltsreicher, inniger und voll klarer Bewusstheit.

Noch schützt ein grüner, lustiger Wall am engangeschmiegten dörflichen Herzen unsere Stadt. Er möge uns und ferneren Geschlechtern erhalten bleiben! Denn er gehört mit zu unserer Kunst, unserer Kultur, zu unserem ganzen lebensbejahenden heiteren Wesen!

Quellen:
Poitschek, Gottfried Julius, in: Der getreue Eckart, Monatsschrift für das deutsche Haus, Neunter Jahrgang, Teil 1, S. 42ff.

Übertragen von hojos
im Dezember 2014