Tiroler Verbindungen von Ober St. Veit
Ein Zeitzeugenbericht
1960
Was konnte das "alte" Ober St. Veit mit Tirol zu tun haben? Die Verbindung ergab sich über die Rindviecher, die nach dem Niedergang des Weinbaus Ende des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Reblaus-Katastrophe im noch agrarisch geprägten Ober St. Veit eine wichtige Rolle spielten: Noch um 1960 gab es in diesem Hietzinger Ortsteil fünf rinderhaltende Betriebe. Es handelte sich überwiegend um milcherzeugende Abmelkwirtschaften, die im Falle des Milchmeiers Wimpissinger einer ständigen Ergänzung aus den westösterreichischen Rinderzuchtgebieten bedurften. Selbstverständlich wurden auch in Ober St. Veit Kälber geboren, sonst hätte es ja keine Milchbildung bei den Kühen gegeben, aber Ostösterreich war damals kein eigentliches Rinderzuchtgebiet, sodass die Qualitätsaufbesserung der Rinderbestände durch Zufuhr aus Westösterreich erfolgen musste, wo die Rinder gealpt wurden.
Für die Milchmeierei Wimpissinger spielten dabei die familiär bedingten Beziehungen zu Tirol eine besondere Rolle, über die auf dieser Plattform nachgelesen werden kann. Wir hielten überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, Braunvieh, das sogenannte Walserrind, ursprünglich in der Schweiz beheimatet, milchbetont und für die Alpung besonders geeignet (Alpung verbessert die Kondition und spätere Leistungsfähigkeit der Jungrinder), dessen wichtigstes Zuchtgebiet sich auch heute noch in Westösterreich befindet. Um den eigenen Rinderbestand zu ergänzen, aufzustocken und zu verbessern, fuhren mein Großvater und später mein Vater regelmäßig zu den Herbstviehmärkten (z. B. in Imst jeweils am 6. September), die damals zu den wichtigsten Tiroler Jahresereignissen gehörten, mit der Bahn nach Tirol. Die Viehmärkte in den Alpenländern fanden jeweils im Herbst nach dem Almabtrieb statt, vielfach ist dies auch heute noch so.
Bei den Viehmärkten gab es spezielle Fachleute, sogenannte Vieh-Sensale, die Bauern und Rinder kannten und beurteilen konnten, welches Stück Vieh für welchen Interessenten geeignet war. Einer dieser Sensale führte meinen Vater auf einen entlegenen Hof, um ein Tier vorzuführen; vorsichtig blickte die Bergbäuerin aus einem Türspalt, ob der Interessent nicht etwa zusammengewachsene Augenbrauen habe, denn einmal war ein solcher in den Stall gelassen worden, und kurze Zeit später verendete das Vieh ... (dieser Aberglaube stand möglicherweise in Zusammenhang mit der bekannten "Verbrecher-Physiognomik" des italienischen Psychiaters Lombroso!).
Das ausgewählte Jungvieh musste nun mit der Bahn nach Wien befördert werden, was mehr als einen Tag dauern konnte, da die Personenzüge jeweils Vorfahrt hatten. Die Tiere mussten dabei entsprechend versorgt werden, also mit Wasser, Heu als Futter und Stroh als Unterlage. In den Stationen wurde jeweils der Wasservorrat ergänzt. Das Begleitpersonal, also auch mein Vater, musste ständig bei den Tieren in deren Waggons verweilen, um nach dem Rechten zu sehen, insbesondere auch, um Paniken zu vermeiden. In den Viehwaggons wurden mitunter außerdem frische Forellen in großen Holztrögen befördert; in den Stationen musste der begleitende Forellenzüchter den Trog schütteln, um die Fische ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen.
Tirol war bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts vielfach noch ein armes, kinderreiches Bergbauernland, sodass sich Bauernsöhne in den östlichen Bundesländern verdingten. Durch seine familiären Wurzeln hatte mein Großvater, wie schon erwähnt, besondere Beziehungen zu Tirol, sodass er von dort auch kundige Arbeitskräfte für die Milchwirtschaft (vor allem Melker) bezog, die damals in Niederösterreich nicht leicht zu bekommen gewesen wären. Solche Fachkräfte nannte man "Schweizer" (die Schweiz war ursprünglich das milchwirtschaftlich am höchsten entwickelte Land), an sie erinnert noch die Schweizertalstraße. Der Heimatdichter Vinzenz Jerabek erwähnt in seiner Erzählung "Die Kegelpartie" den Blasl, "den luschtigen Tiroler", der einer großen Meierei vorstand.