Die Bründlwiese
Aus der Sammlung der Erzählungen des Wiener Heimatdichters J. Vinzenz unter dem Titel: „Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt“.
1956
In meiner Jugend wußte ich einen Erdenwinkel, der war begnadet von der Natur und umfangen von den stillen Armen der Einsamkeit. Diese Idylle wurde die "Bründlwiese" genannt. Hier war tiefer Friede; die schönsten Blumen wuchsen da, und die prächtigsten Falter flirrten um sie herum. Ungestört sangen die Grillen den ganzen Tag. In der Ferne lag die große Stadt, deren Türme an klaren Tagen sichtbar wurden. Manchmal wurde ein dumpfes Rollen hörbar; das kam von der Eisenbahn, die hinter einem bewaldeten Höhenzug fuhr.
Zu Häupten der Wiese erhob sich der alte Wald. Um die Abendzeit entströmte köstlichkühler Hauch den breiten Baumkronen, Blumen und Gräser erfrischend. An ihrem Rande wuchs ein wilder Rosenstrauch, so hoch und dicht, daß man unter seinen Ranken wie in einer Laube saß. Daneben sprudelte aus einem Erdspalt ein kristallklares Wässerlein, lief in eine Mulde, die von Binsen und fettem Blattwerk eingerahmt war und "s Bründl" hieß. Die Wiese hatte davon ihren Namen. Immer war Besuch beim Bründl. Vögel nahmen ein Bad, Libellen und Wasserfliegen schwirrten über dem glänzenden Wasserspiegel, allerlei Käfer krochen bedächtig im üppigen Blattwerk herum, und abends kam das Wild aus dem nahen Wald zur Tränke.
Wenn der wilde Rosenstrauch am lieblichsten blühte, dann sangen die Vögel am schönsten und die Wiese glich einer Farbenflut. Sie gehörte dem Milchmeier Halbscheider. Er besaß außerdem noch einen Weingarten, der an die Wiese grenzte. Arbeitete der Mann in diesem, so kam er zur Frühstückszeit zum Rosenstrauch, ließ sich nieder, verzehrte ein Stück kerniges Schwarzbrot und trank aus einem Steinplützerl seinen eigenen Wein. Mit frohen Augen betrachtete er dabei seine wunderschöne Wiese.
Damals bin ich oft unter dem wilden Rosenstrauch gesessen, habe Märchen oder Indianergeschichten gelesen oder ein langstrophiges Gedicht auswendig gelernt. Und das Glück ist unsichtbar neben mir gesessen. Eines Tages kam ein kleiner, gebückter Mann zur Wiese. Der reiche Vielhaber war's. Weder Bauer noch Städter, besaß er die meisten Grundstücke, und viele Kleinhäusler schuldeten ihm Geld. Konnte so ein armer Teufel nicht bezahlen, so nahm ihm der Vielhaber ein Grundstück weg und wurde so, ohne zu arbeiten, immer reicher. Die Bründlwiese stak in seinem Besitz wie ein Dorn im Fleisch. Sie wollte er bekommen, um ein abgerundetes Ganzes zu haben.
Beim Grenzstein hielt er an, um zu verschnaufen. Hierauf begann er wie ein Soldat zu marschieren. Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten umging er die Wiese. Nun zog er aus der Tasche ein schmieriges Heft, näßte einen Blei an den Lippen und begann zu rechnen. In diesem Augenblick kam der Halbscheider, um zu frühstücken.
"Halbscheider", sprach hüstelnd der Vielhaber. "ich hab deine Wiese ausgemessen, ich möcht sie dir gern abkaufen."
"Solang im leb, verkauf ich keinen Grund", schüttelte der Halbscheider den Kopf, "und meine Bründlwiese schon gar nit!"
Kein Wort sagte der Abgewiesene und ging fort. Ich konnte den reichen Mann, diesen stillen Wucherer, nicht leiden. Einmal hatte ich über die Seelenwanderung gelesen, wie die alten Ägypter diese sich vorstellten. Die Sache gefiel mir, und ich begann allen meinen Bekannten, je nach ihren Tugenden, die Plätze anzuweisen, die sie nach ihrem Tod bekommen würden. Den guten Vetter Haselmeier ließ ich zu einem braven Bernhardiner werden, meinem Lehrer, wegen seiner langen, zurückgestrichenen Haare und der blitzenden Brillengläser, wies ich die Rolle eines edlen Löwen zu, den geizigen Vielhaber jedoch mit seinen hungrigen Augen und dem schleichenden Gang verdammte ich zu einem Wurm, der in lehmigen Pfützen leben mußte.
Warum ich solche Abneigung gegen den Mann empfand? Weil er mit mir gar nicht glimpflich umgegangen ist, als er mich einmal bei einem seiner vielen Apfelbäume erwischt hat.
Der Vielhaber hat sich noch öfter über den Halbscheider geärgert, weil der seine Wiese durchaus nicht hergeben wollte. Da ist einmal ein schlechtes Weinjahr gewesen. Trübselig musterte der Halbscheider die Weinstöcke, als der Vielhaber herbeischlich.
"Halbscheider, sei gscheit, verkauf mir die Wiese. Du kriegst heuer keinen Wein, du wirst Geld brauchen."
"Solang ich arbeiten kann, verkauf ich nit", sprach abweisend der Halbscheider und ließ den Dränger stehen.
Die Jahre kamen und gingen. Lange war ich von der Heimat weg gewesen, und da ich zurückkam, war mein erster Weg zur Bründlwiese. Ich fand sie zwar, aber wie hatte sie sich verändert! Die große Stadt in der Ferne hat ihren steinernen Leibring gesprengt und spie unausgesetzt graue Häusermassen ins grüne Gelände. Bis zum Grenzstein der Wiese standen schon die Bauten. Die Städter waren mit der neuen elektrischen Bahn in Massen gekommen und hatten mit Freudengeschrei von der lieblichen Wiese Besitz ergriffen. Sie vertrieben die Einsamkeit und alle Vögel, rotteten die Blumen aus, beschmutzten die Quelle, und wo früher tiefer Naturfriede geherrscht hatte, machte sich jetzt wüster Stadtlärm breit.
Und da ist der Halbscheider, dem seine Wiese leid tat, zum Vielhaber gegangen und hat sie ihm angeboten. Der rieb seine eiskalten, klebrigen Hände; er besaß nun eine Grundfläche von beträchtlichem Wert. Und er ließ Häuser auf die Wiese bauen. "Man muß auf einer Wiese nicht immer Heu machen, auf andere Art bringt sie mehr Geld ein", krächzte er.
Es kam der Weltkrieg und brachte die schreckliche Zeit des Hungers und der Entbehrungen mit sich. Die Inflation meldete sich. Da sprachen beim Vielhaber, der schneeweiß geworden war, einige Herren vor und erboten sich, ihm seinen Grundbesitz abzukaufen. Der Alte tat, als wollte er nicht und verlangte - eine Million Kronen. Der Preis wurde bewilligt, und der Vielhaber bekam tausend Stück Tausender.
Kurze Zeit später trug sich Schreckliches zu: die Inflation hatte in größtem Maßstab eingesetzt, und ihre Opfer zählten nach Tausenden. Auch der alte Vielhaber war darunter. Er wollte es nicht glauben, daß die neuen, großen Geldscheine ihren Wert verloren hätten. Als es sich aber doch herausstellte, daß er seinen großen Besitz für ein Trinkgeld hergegeben, brach er zusammen. Bis ins Greisenalter hatte er gespart, hatte andere übervorteilt, hatte ein riesiges Vermögen angesammelt, und dies war nun zu Papier geworden, von dem er einige Tage leben konnte. Wut, Angst und Schmerz schüttelten ihn, und an allen Gliedern zitternd, sank er in den Lehnstuhl. Schloß die Augen - für immer. Ein Schlaganfall hatte ihn dahingerafft.
Bründlwiese! Wer weiß heute noch etwas von dir? Von dir, dem Rosenstrauch und dem klaren Quell? Das ist alles gewesen, ist unwiederbringlich fort. Geblieben ist nichts als eine wehmütige Erinnerung . . .
Zu Häupten der Wiese erhob sich der alte Wald. Um die Abendzeit entströmte köstlichkühler Hauch den breiten Baumkronen, Blumen und Gräser erfrischend. An ihrem Rande wuchs ein wilder Rosenstrauch, so hoch und dicht, daß man unter seinen Ranken wie in einer Laube saß. Daneben sprudelte aus einem Erdspalt ein kristallklares Wässerlein, lief in eine Mulde, die von Binsen und fettem Blattwerk eingerahmt war und "s Bründl" hieß. Die Wiese hatte davon ihren Namen. Immer war Besuch beim Bründl. Vögel nahmen ein Bad, Libellen und Wasserfliegen schwirrten über dem glänzenden Wasserspiegel, allerlei Käfer krochen bedächtig im üppigen Blattwerk herum, und abends kam das Wild aus dem nahen Wald zur Tränke.
Wenn der wilde Rosenstrauch am lieblichsten blühte, dann sangen die Vögel am schönsten und die Wiese glich einer Farbenflut. Sie gehörte dem Milchmeier Halbscheider. Er besaß außerdem noch einen Weingarten, der an die Wiese grenzte. Arbeitete der Mann in diesem, so kam er zur Frühstückszeit zum Rosenstrauch, ließ sich nieder, verzehrte ein Stück kerniges Schwarzbrot und trank aus einem Steinplützerl seinen eigenen Wein. Mit frohen Augen betrachtete er dabei seine wunderschöne Wiese.
Damals bin ich oft unter dem wilden Rosenstrauch gesessen, habe Märchen oder Indianergeschichten gelesen oder ein langstrophiges Gedicht auswendig gelernt. Und das Glück ist unsichtbar neben mir gesessen. Eines Tages kam ein kleiner, gebückter Mann zur Wiese. Der reiche Vielhaber war's. Weder Bauer noch Städter, besaß er die meisten Grundstücke, und viele Kleinhäusler schuldeten ihm Geld. Konnte so ein armer Teufel nicht bezahlen, so nahm ihm der Vielhaber ein Grundstück weg und wurde so, ohne zu arbeiten, immer reicher. Die Bründlwiese stak in seinem Besitz wie ein Dorn im Fleisch. Sie wollte er bekommen, um ein abgerundetes Ganzes zu haben.
Beim Grenzstein hielt er an, um zu verschnaufen. Hierauf begann er wie ein Soldat zu marschieren. Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten umging er die Wiese. Nun zog er aus der Tasche ein schmieriges Heft, näßte einen Blei an den Lippen und begann zu rechnen. In diesem Augenblick kam der Halbscheider, um zu frühstücken.
"Halbscheider", sprach hüstelnd der Vielhaber. "ich hab deine Wiese ausgemessen, ich möcht sie dir gern abkaufen."
"Solang im leb, verkauf ich keinen Grund", schüttelte der Halbscheider den Kopf, "und meine Bründlwiese schon gar nit!"
Kein Wort sagte der Abgewiesene und ging fort. Ich konnte den reichen Mann, diesen stillen Wucherer, nicht leiden. Einmal hatte ich über die Seelenwanderung gelesen, wie die alten Ägypter diese sich vorstellten. Die Sache gefiel mir, und ich begann allen meinen Bekannten, je nach ihren Tugenden, die Plätze anzuweisen, die sie nach ihrem Tod bekommen würden. Den guten Vetter Haselmeier ließ ich zu einem braven Bernhardiner werden, meinem Lehrer, wegen seiner langen, zurückgestrichenen Haare und der blitzenden Brillengläser, wies ich die Rolle eines edlen Löwen zu, den geizigen Vielhaber jedoch mit seinen hungrigen Augen und dem schleichenden Gang verdammte ich zu einem Wurm, der in lehmigen Pfützen leben mußte.
Warum ich solche Abneigung gegen den Mann empfand? Weil er mit mir gar nicht glimpflich umgegangen ist, als er mich einmal bei einem seiner vielen Apfelbäume erwischt hat.
Der Vielhaber hat sich noch öfter über den Halbscheider geärgert, weil der seine Wiese durchaus nicht hergeben wollte. Da ist einmal ein schlechtes Weinjahr gewesen. Trübselig musterte der Halbscheider die Weinstöcke, als der Vielhaber herbeischlich.
"Halbscheider, sei gscheit, verkauf mir die Wiese. Du kriegst heuer keinen Wein, du wirst Geld brauchen."
"Solang ich arbeiten kann, verkauf ich nit", sprach abweisend der Halbscheider und ließ den Dränger stehen.
Die Jahre kamen und gingen. Lange war ich von der Heimat weg gewesen, und da ich zurückkam, war mein erster Weg zur Bründlwiese. Ich fand sie zwar, aber wie hatte sie sich verändert! Die große Stadt in der Ferne hat ihren steinernen Leibring gesprengt und spie unausgesetzt graue Häusermassen ins grüne Gelände. Bis zum Grenzstein der Wiese standen schon die Bauten. Die Städter waren mit der neuen elektrischen Bahn in Massen gekommen und hatten mit Freudengeschrei von der lieblichen Wiese Besitz ergriffen. Sie vertrieben die Einsamkeit und alle Vögel, rotteten die Blumen aus, beschmutzten die Quelle, und wo früher tiefer Naturfriede geherrscht hatte, machte sich jetzt wüster Stadtlärm breit.
Und da ist der Halbscheider, dem seine Wiese leid tat, zum Vielhaber gegangen und hat sie ihm angeboten. Der rieb seine eiskalten, klebrigen Hände; er besaß nun eine Grundfläche von beträchtlichem Wert. Und er ließ Häuser auf die Wiese bauen. "Man muß auf einer Wiese nicht immer Heu machen, auf andere Art bringt sie mehr Geld ein", krächzte er.
Es kam der Weltkrieg und brachte die schreckliche Zeit des Hungers und der Entbehrungen mit sich. Die Inflation meldete sich. Da sprachen beim Vielhaber, der schneeweiß geworden war, einige Herren vor und erboten sich, ihm seinen Grundbesitz abzukaufen. Der Alte tat, als wollte er nicht und verlangte - eine Million Kronen. Der Preis wurde bewilligt, und der Vielhaber bekam tausend Stück Tausender.
Kurze Zeit später trug sich Schreckliches zu: die Inflation hatte in größtem Maßstab eingesetzt, und ihre Opfer zählten nach Tausenden. Auch der alte Vielhaber war darunter. Er wollte es nicht glauben, daß die neuen, großen Geldscheine ihren Wert verloren hätten. Als es sich aber doch herausstellte, daß er seinen großen Besitz für ein Trinkgeld hergegeben, brach er zusammen. Bis ins Greisenalter hatte er gespart, hatte andere übervorteilt, hatte ein riesiges Vermögen angesammelt, und dies war nun zu Papier geworden, von dem er einige Tage leben konnte. Wut, Angst und Schmerz schüttelten ihn, und an allen Gliedern zitternd, sank er in den Lehnstuhl. Schloß die Augen - für immer. Ein Schlaganfall hatte ihn dahingerafft.
Bründlwiese! Wer weiß heute noch etwas von dir? Von dir, dem Rosenstrauch und dem klaren Quell? Das ist alles gewesen, ist unwiederbringlich fort. Geblieben ist nichts als eine wehmütige Erinnerung . . .