Ein Faible für Ober St. Veit

Idyllische Vorstadt an den Hängen ob der Wien

Goldbraun glucksen die kleinen, kurzen Wellen des schmalen Flusses dahin, welcher der riesigen Stadt an der Donau ihren Namen gegeben haben soll. „Viene“ überliefern älteste Berichte die Bezeichnung des oft recht ungestümen Wasserlaufes, der sich da von alters her seinen Weg durch die Wienerwaldtäler zur Donau sucht. Und an dessen Ufern, unweit der Mündung in einen der Arme des großen Stromes, die römischen Vorhuten eine kleine Ansiedlung vorfanden, die nach dem Flüsschen ihren Namen hatte. So wie ein wenig weiter stromaufwärts der Wienerwaldbach „Tulne“ der Namensursprung für das heutige Tulln war. „Agaunus“ haben die Römer in Vindobona den Wienfluss genannt. Haben ihn  – vielleicht wegen seiner zur Schneeschmelze auch heute noch erstaunlichen Wildheit und Kraft – als jungen, kräftigen Jüngling göttlicher Herkunft in Stein gemeißelt und in grauer Vorzeit in einem Tempelchen in den Wien-Auen richtig verehrt. Es stand ungefähr dort, wo wir heute auf einem beschaulichen Sonntagsspaziergang nach Ober St. Veit, von der Stadtbahnstation Hütteldorf kommend, in Hacking uns ein wenig erinnern.

Da liegt gleich hinter der Hackinger Brücke der Schimonpark mit seinen Bankerln, mit seiner schmalen bezaubernden Rokokosäule mit dem uralten Kreuz. Fast wie in einem Hain stehen hier ein wenig feierlich-melancholisch diese alten Bäume, man könnte sich gut vorstellen, dass hier das kleine Agaunusheiligtum gewesen ist.

Durch diesen Schimonpark also, vorbei an einem sehr alten Weingartl, steigen wir die Schloßbergstraße hinauf, zu der die nahen Baumriesen vom Lainzer Tiergarten herrüberrauschen und die grünen Wipfel aus dem einstigen Park des Hackinger Schlössls. Viel ist von dieser uralten einstigen Veste nicht mehr da. Denn gerade in diesen Tagen ist die Spitzhacke hier am Werk: Es soll an Stelle des Schlössls, wo einst der Rittersmann Otto von Hacking im 13. Jahrhundert die Handelsstraße nach Wien bewacht hat, ein Jugendgästehaus der Stadt Wien errichtet werden. Aus den Zeiten der Herren von Hacking datierte auch der einstige Weinbau hier an den Hängen über der Wien. Aber man hat nur einen weitum als „Säuerling“ gefürchteten Tropfen keltern können. Da haben die benachbarten Ober St. Veiter in ihren sonnigeren Rieden mehr Erfolg gehabt. Ein Name wie etwa „Stock im Weg“ hat ja auch heute bei Wiens Weinkennern noch guten Klang.

In alten Gärten um schönbrunngelbe Landhäuser stehen die Obstbäume noch in später Blüte. Grün rankt es um Salettln und Staketen – vom Wiental herauf trägt der Wind eine Melodie, die ein bisschen so klingt wie: „Seinerzeit, zu meiner Zeit, da waren das noch ganz andere Leut'...“ Und zwei sandsteinerne Engelskopferln an einem Haus mit einem sehr geruhsamen, schmiedeeisernen Empire-Balkon in der Vinzenz-Heß-Gasse lächeln dazu ein wenig spitzbubenhaft. Wie halt so Buben manchmal dreinschauen können, wenn ältere Leute ins Erinnern kommen. Man muss einen wunderbaren Blick von diesem Balkon auf das weite Wiental haben! Er hat übrigens sehr viele Artgenossen, dieser schon vom jungen Wein umrankte Balkon an dem verträumten Hackinger Landhaus. Aber auch in Ober St. Veit, in das wir jetzt herübergeschlendert sind, begegnen wir manch ländlichem Idyll.

Da steigt etwa vom Wiental herauf die Firmiangasse, von der ein wenig weiter links die Glasauergasse abzweigt. Dort, wo sie sich gabeln, lächelt wehmütig-gütig ein Nepomuk in sorglich eingezäunter Nische: letzte Erinnerung an die Zeit, da hier einmal ein eiliges Bacherl zur Wien gesprudelt ist. Wie ein treuer Wächter vor Alt-Ober-St.-Veit steht der Heilige da, das sich hier rechts und links in den beiden Gassen auf tut. Mit winzigen Hauerhäuserln und stattlichen Fuhrwerkerhöfen, aber auch hoch mit einstigen Wäscherhöfen mit ihrem charakteristischen Vierkantbau und doppeltem Giebeldach. Dehn hier hat man nicht nur bis vor wenigen Jahrzehnten noch einen recht guten Wein gebaut, da waren an der Wien auch die Färber und die Bleicher, die Wäscher und die Zeugwalker ansässig. Und weiter bergan, zum alten Dorfkern zu, findet sich in den Gassen manch weiter Landhof mit seinen traulichen Holzveranden, seiner breiten Einfahrt und der köstlichen Stille eines Buen Retiro inmitten amselumsungener und fliederdurchdufteter Gärten. Kleine Familiensitze, die von der Beschaulichkeit einer Gartenjause oder eines Gläschens Wein unter aufsteigenden Sternen so zu plaudern wissen, wie es uns das entzückende Wiener Liedl schildert: „Ich hab' halt ein Faible für Ober St. Veit!“

Eine besondere Köstlichkeit haben wir in der Glasauergasse 20 entdeckt. Dort, wo die Fahrbahn mit den breitausladenden Kastanienbäumen sich sichtlich zum alten „Dorfplatzl“ weitet, grüßt ein gewaltiger Holunderbaum. Jawohl, ein richtiger Baum, der eigentlich aus drei Stämmen besteht und durch die große, rotweiße Blechplakette als Naturdenkmal sich vorstellt. Schräg gegenüber steht ein breites Einfahrtstor eines alten Fuhrwerkerhofes halb offen. Sowohl Lastautos als auch Pferdefuhrwerk erzählen davon, dass man hier noch immer weiß, was „a Fuhrmann, a rarer“ auf dieser Welt zu bedeuten hat. Über einer der Türen, die von dem Hof anscheinend in Wohnungen führen, findet sich als Zunftzeichen ein entzückendes holzgeschnitztes Rössl. Neben der Tür ein winzig kleines Vorgartl mit einem niedrigen Staketenzaun. Aus diesem kleinen Stück Garten reckt sich an der Hausmauer ein knorriger, weitverzweigter Weinstock empor. An Stelle der anderswo noch so beliebten Gartenzwerge aber stehen sich hier in diesem Fuhrwerkervorgartl zu Ober St. Veit, etwa einen halben Meter groß, zwei Gipsfiguren gegenüber. Die eine, mit aufgeschlagenem Mantel und hoher Denkerstirn, unverkennbar Johann Wolfgang von Goethe, sein Visavis ist Friedrich Schiller. Das hat ka Goethe g'schrieb'n, das hat ka Schiller 'dicht' – sondern das ist ein .kleines Mosaiksteinchen aus dem Wien unserer Tage, das trotz „Zeitgeist“ und „Sachlichkeit“ eben immer Wien bleibt. Die Stadt, in der auch Fuhrwerker sich des Wertes und der Kraft klassischer Zitate noch immer sehr wohlbewusst sind und deshalb ihre Schöpfer hoch in Ehren halten.

Aber nicht nur Fuhrwerkerhäuser finden wir noch in Ober Sankt Veit. Ein grünes Kranzerl da und dort weiß vieles zu erzählen von „die Wirtshäuser unter die Bam“, zu denen – vermutlich wohl wegen des Liedreimes! – „in der G'ham“ schon so manches Pärchen seinen Spaziergang gemacht hat. Denn der Anfang dieses kleinen Vorortes, von dem schon Urkunden aus dem Jahre 1176 zu berichten wissen, war ja der Weinbau. Beim einst so berühmten Ober St. Veiter Faschingszug haben auch die Hauer immer die originellsten Gruppen und Fuhrwerke gezeigt. Nach den schweren Türkenjahren hat dann das Örtl sich besonders entwickelt, als Graf Kollonitsch das kleine, noble Sommerschlösschen der Wiener Erzbischöfe zu Ober St. Veit hat erbauen lassen. Das Schloss und die wunderbare Barockkirche krönen droben am Hang dieses ganze Idyll an der Wien, in das heute so erstaunlich wenig Wiener ihren Weg finden, wenn sie nicht dort ansässig sind.

Erzbischofgasse, Vitusgasse, Einsiedeleigasse – es ist eine recht fromme Gegend anscheinend hier an den Hängen über dem Flusse des alten Römergottes Agaunus. Aber in einer Landschaft, in der Wald und Wein, Vogelruf und Fliederbusch durch die Jahrhunderte den Menschen die Allmacht Gottes in der Natur immer wieder in all ihrer Schönheit zeigen, mag das verständlich erscheinen. Solch eine Gegend ist auch die richtige, um Kostbarkeiten einer frommen Kunst zu hüten. Heimkehrend sind wir in der Unter-St.-Veit-Gasse noch für eine stille Minute in die kleine Unter St. Veiter Expositurkirche getreten. Als richtiges liebes Dorfkircherl von Anno damals bildet sie den Abschluss einer kleinen, aus der Häuserfront zurückspringenden Grünanlage. Bezaubernd ist dieser Barockaltar; wie in einem frommen Roman die Stille und das gedämpfte Licht. Aus der alten Laimgrubenkirche hat man dieses hochbarocke Kleinod einst hierher in das Unter St. Veiter Kircherl übertragen; mit einem Stern ist es in vielen berühmten Kunstbüchern über Wien erwähnt. Ein Stern, der zum guten Führer werden kann durch ein Stück Wiener Vorstadt, für das man bald ein Faible hat ...

Quellen:
Otto Stradal in einer Wochenendbeilage des Neuen Kurier

Übertragen von hojos
im Jänner 2022