Dem Mythos Tibet auf der Spur
Ein Reisebericht von Anton Schmoll – Unterwegs auf dem Dach der Welt.
09.12.2019
Versteckt hinter den höchsten Bergen der Welt liegt das geheimnisumwobene Tibet, das ehemalige Zentrum der Dalai Lamas. Die Pilgerreise zum heiligen Berg Kailash, dem Schneejuwel im Himalaya, bringt besinnliche Begegnungen mit dem Volk der
Tibeter. Und in abgeschiedenen Dörfern oder in Klöstern kann man noch das ursprüngliche Tibet erleben.
Warum unsere kleine Gruppe bei der Reise zum Kailash Jeeps und einen Lkw benötigt, wird sehr bald klar: Eine waghalsig angelegte Schotterpiste steigt innerhalb von nur 30 Kilometern von 2.100 auf knapp 4.000 Meter an. Bereits auf dieser ersten Etappe haben wir Probleme mit den Fahrzeugen: Bei einem Jeep ist die Kupplung kaputt. Also: Gepäck umladen, auf die anderen Fahrzeuge verteilen, und weiter geht's. Vor allem der Lkw ist für unsere Versorgung lebenswichtig – führt er doch nicht nur alle Zelte und die ganze Verpflegung mit, sondern auch den Treibstoff. Denn Tankstelle sehen wir während dieser Tour in Tibet keine …
Back to the roots am Kailash
Bei der Suche nach dem Zeltplatz für die Nacht ist das wichtigste Auswahlkriterium die Nähe eines Flusses, der einen einigermaßen sauberen Eindruck erweckt. Denn daraus wird das Wasser für unseren Tee, für das Kochen sowie für das Waschen bezogen. Bei dieser Art der Versorgung kehrt man wirklich zu den Wurzeln zurück – und spürt plötzlich hautnah, was für das Leben (oder besser Überleben) wirklich wichtig ist.
Das Schlafen auf über 4.000 Metern Höhe bereitet anfangs vielen Probleme: Kopfweh, Übelkeit und vor allem Schlaflosigkeit sind die Symptome.
Und so wird auch jedes Geräusch in der Umgebung noch deutlicher als sonst wahrgenommen – vom Husten aus dem Nachbarzelt bis zu den Hunden der Schafherden in der Nähe, die stundenlang nicht mit dem Bellen aufhören. Oft ist man froh, wenn nach einiger Zeit des leichten Dahindämmerns der Morgen naht.
Nach einigen Tagen Jeepfahrt und der Überquerung hoher Pässe von über 5.000 Metern erreichten wir den Manasarovar-See. Er ist der höchstgelegene Süßwassersee der Welt und liegt in einer malerischen Landschaft. Südlich davon erhebt sich das mächtige Massiv des von ewigem Schnee und Eis bedeckten Gurla Mandata, und im Norden, auf dem riesigen Gebirgssystem des Transhimalaya, der berühmte Gipfel des Kailash.
Der Mittelpunkt des Universums
Es liegt wohl nicht an seiner Höhe, denn mit seinen 6.714 Metern ist der Kailash um einiges niedriger als der Mount Everest. Vielmehr sind es die Form und die Lage, die seine harmonische Schönheit ausmachen. Da er ringsum von keinen anderen hohen Bergen umgeben ist, wirkt der Kailash wie eine weiße Pyramide. Vier der größten
Flüsse Asiens entspringen in der unmittelbaren Umgebung: Der Indus fließt nach Norden, der Brahmaputra nach Osten, der Karnali nach Süden und der Sutlej nach Westen.
Die Buddhisten betrachten den Kailash als Mittelpunkt des Universums, als die stoffliche Verkörperung des mythischen Weltenberges Meru, der Weltachse. Hindus Buddhisten, Jainas und die Anhänger des alten Bön-Glaubens verneigen ergriffen ihr Haupt vor den immer mit Schnee bedeckten Gipfeln.
Kein Wunder, dass bei so viel Spiritualität Inder, Nepalesen und Tibeter seit vielen Jahrhunderten in dieses Gebiet pilgern. Eine Umrundung zu Fuß soll die Sünden eines Lebens wegwaschen, 108 Umrundungen sollen das Nirvana noch in diesem Leben garantieren. Eine Runde umfasst rund 55 Kilometer, die Pilger benötigen dafür meist zwei Tage.
Wir selbst haben dafür drei Tage eingeplant, die wir auch gut brauchen können. Am ersten Tag geht es durch eine bizarre Felslandschaft entlang des Lha-Tschu-Flusses eher langsam bergauf. Das friedliche Plätschern des Gewässers, die eindrucksvolle Landschaft und die Begegnung mit den indischen und tibetischen Pilgern erzeugten eine friedliche, ruhige und doch ehrfürchtige Stimmung.
Begegnungen mit den Pilgern
Von den Tibetern werden wir stets mit einem herzlichen „tashi delek“ (was so viel wie „Glück und Segen“ bedeutet) begrüßt, während wir von den indischen Pilgern ihr bekanntes „namaste“ hörten. Der Kontakt ist rasch hergestellt, obwohl wir ihre Sprache nicht beherrschen. Neben Brillen als Geschenke (die hier nur sehr schwer zu bekommen sind) sind es vor allem Fotos des Dalai Lama, die die Augen der Tibeter zum Leuchten bringen. Wenn ein Pilger so ein Bild bekommt, hält er es mit beiden Händen an die Stirn und verbirgt es dann rasch in seinem Umhang, weil das Mitbringen und Besitzen dieser Fotografien verboten ist.
Der zweite Tag der Umrundung ist zweifelsohne der anstrengendste: Auf einem steilen Anstieg geht es über Geröllhalden und über Felsen bergauf zum 5.670 Meter hohen Dölma-Pass. Auf der letzten Strecke vor der Passhöhe wird die Luft schon sehr knapp. Die Schläfen klopfen, jeder Schritt ist mühsam – und die Abstände zwischen den Verschnaufpausen werden immer kürzer.
Unzählige Steintürme und Gebetsfahnen kennzeichnen diesen höchsten Punkt, der zweifelsohne der körperliche und spirituelle Höhepunkt unserer Kailash-Umrundung ist. Der Tradition entsprechend entrollen wir unsere mitgebrachten Gebetsfahnen und befestigten sie so, dass sie vom heftig wehenden Wind bewegt werden. Die Überschreitung des Passes bedeutet auf der spirituellen Ebene einer Wallfahrt den Übergang aus diesem Leben in ein neues. Durch die Gnade Dölmas wird der Pilger
neu geboren. Unsere Umrundung endet schließlich in Darchen, wo wir uns von unseren Yaks und deren Treibern verabschieden.
Auf dem Land ist die Zeit stehen geblieben
In den Dörfern am Land scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Bei unseren Spaziergängen haben wir die Chance, etwas vom Alltagsleben mitzubekommen.
Wir haben großes Glück, dass wir auch ein volkstümliches Bauernhaus besuchen dürfen, denn von den Reiseleitungen wird stets darauf geachtet, dass Touristen nicht zu viel Kontakt zu den Einheimischen pflegen.
Wie bei uns in den Alpen das Brennholz vor den Hütten ist hier der Dung der Yaks vor den Bauernhäusern aufgeschichtet. Da Holz rar ist, wird der Mist der Tiere in Fladenform getrocknet und bildet wertvolles Brennmaterial für den kalten Winter. Neben den traditionellen Gebetsfahnen muss auf dem Dach auch die chinesische Flagge befestigt werden.
Freundlich werden wir von der Bäuerin und ihrem Mann begrüßt, die uns bereitwillig ihr Anwesen zeigen. Bei der Kochstelle im Innenhof steht ständig Buttertee, das Nationalgetränk der Tibeter bereit – minderwertiger Tee aus China wird gekocht und dann mit Butter und stark sodahaltigem Salz in einem hohen Gefäß verquirlt. 30 bis 40 Tassen pro Tag sind üblich. Nur widerwillig nehme ich einen Schluck. Das Getränk schmeckt furchtbar, und ich muss an Heinrich Harrer denken, wie er seine ersten Erfahrungen mit dem Buttertee schilderte.
Im Hof steht unter einem Vordach ein mechanischer Webstuhl aus Holz. Schaf- und Yakwolle werden gesponnen und zum Weben von Kleidung, Zelten oder Teppichen verwendet. Ein Herstellungsverfahren wie vor 100 Jahren. Die tiefe Religiosität der Menschen wird auch hier deutlich: Jeder Bauernhof besitzt einen eigenen Raum mit einem Hausaltar.
Wir marschieren hinaus auf die Felder, um die Bauern bei ihrer Arbeit zu beobachten. Mehr als zwei Drittel der tibetischen Bevölkerung arbeiten in der
Landwirtschaft, die aufgrund der Höhe und des Klimas nicht sehr ertragreich ist. Traktoren sind eher eine Seltenheit, die Felder werden mit Pflügen und Eggen bearbeitet. Furche um Furche ziehen die Bauern mit ihren Kuh- oder Yakgespannen, die mit bunten Federn geschmückt sind. Die Tiere sind sichtlich ihr ganzer Stolz.
Klöster als geistliche und weltliche Zentren
Für mehr als 1.000 Jahre waren die Klöster die wichtigsten Zentren des religiösen, aber auch des kulturellen und politischen Lebens. Handelte es sich anfangs um kleinere Anlagen, entstanden später richtige Klosterstädte. Im 15. Jahrhundert gründete etwa der Reformator Tsongkapa (der Gründer der „Gelbmützen“) in der Nähe von Lhasa die drei großen Staatsklöster Drepung, Ganden und Sera.
Drepung wird manchmal als „Mutterkloster“ bezeichnet, weil von dort aus die ersten Dalai Lamas regierten. Im frühen 17. Jahrhundert war es das größte Kloster der Welt. Jahrhundertelang lebten dort zwischen 7.000 und 10.000 Mönche. Heute sind es nur mehr 400. Ein politisch brisanter Ort ist das Kloster Tashilunpo: Hier war der Sitz des Panchen Lama. Vor einigen Jahren wurde der damals Siebenjährige entführt und lebt seither unter Hausarrest in Peking.
Hoch hinauf führt uns der Weg zum Kloster Rongpu. Es liegt vor der imposanten
Nordseite des Everest auf einer Höhe von 4.980 Metern. Rongpu gilt damit als das höchste Kloster der Welt. Es ist zudem einer der höchsten ständig bewohnten Plätze der Erde.
Im Rahmen der Kulturrevolution wurden 6.300 Klöster und Tempel geplündert und bis auf die letzten Fundamente zerstört. Von den 1980er-Jahren bis heute wurden knapp 2.000 wieder aufgebaut. Die Klosteranlagen selbst sind alle nach einem bestimmten Muster angelegt: Der Hof ist von einer Mauer umgeben, in seiner Mitte steht ein hoher, mit einem Dreizack und langen Gebetsfahnen geschmückter Mast. Auch auf den flachen Dächern findet man diesen Dreizack sowie zylindrische Banner, die die bösen Geister und Dämonen abhalten sollen. Über der Vorhalle befindet sich das Rad der Lehre, flankiert von zwei Gazellen. Es erinnert an Buddhas erste Predigt im Gazellenpark von Sarnath. Es gibt verschiedene Tempelräume für die Verehrung der jeweiligen Gottheit sowie einen eigenen Versammlungsraum für die täglichen Zusammenkünfte der Mönche und für die religiösen Feste.
Das Leben in den Klöstern
Schätzungen zufolge waren im alten Tibet zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung Mönche. Jede Familie rechnete es sich als Ehre an, mindestens einen Sohn ins Kloster zu schicken. Die Klöster waren damals die einzigen Zentren der Bildung. Das Leben dort bedeutete daher auch einen sozialen Aufstieg. Der Alltag war hart: Alle standen vor der Morgendämmerung auf und waren den ganzen Tag mit religiösen Diensten, Verwaltungsarbeiten, Studium und den Alltagsarbeiten beschäftigt.
Jene, die ausgebildet wurden, nahmen über einen Zeitraum von 20 bis 25 Jahren ein langes Studium auf sich. Großer Wert wurde dabei auf die Kunst des Debattierens und Argumentierens gelegt. Auch die strengen Prüfungen fanden in Form von Debatten zwischen Schülern und gelehrten Mönchen statt. Erst nach Bewältigung von Logik, Rhetorik, Theologie und Analyse der buddhistischen Sutras konnte ein Mönch „Lama“ werden, was so viel wie Lehrer oder Meister bedeutet. Im Kloster Sera, das für die Gelehrsamkeit seiner Mönche berühmt ist, können wir so ein Debattierritual beobachten. Die Prüflinge sitzen am Boden, und der Prüfer begleitet seine Fragen mit einem lauten Klatschen der Hände.
Mystik in der Altstadt von Lhasa
Viele meiner Freunde meinten vor meiner Abreise, ich würde von Lhasa enttäuscht sein. So bin ich vorgewarnt und daher nicht so schockiert ob der chinesischen Prägung der heutigen Neustadt: gerade, breite Straßen und zweckmäßige Gebäude, in denen Warenhäuser chinesischen Stils und Regierungsbüros untergebracht sind. Doch in der Altstadt kommt jene Mystik auf, die ich ersehnt habe. Die Straßen sind eng zwischen den weißgetünchten Steinmauern, deren Wände sich nach innen neigen. Viele Häuser haben kräftig bemaltes Holzwerk, und die Fenster sind mit schwarzen Trapezen gerahmt.
Das Herz der Altstadt ist der Barkhor. So wird der innere Pilgerpfad rund um den Jokhang-Tempel genannt. Da unser Programm kurzfristig geändert wurde, habe ich genug Zeit, um zu verschiedenen Tageszeiten dort zu verweilen. In kalkgetünchten Öfen verbrennen die Pilger Wacholderstauden, sodass der Rauch die Stadt in einen milchigen Schleier hüllt.
Ich genieße diese Atmosphäre, wenn der Strom der Pilger mit ihren Gebetsmühlen an mir vorbeizieht. Und unter dem monotonen Gemurmel des „Om mani padme hum“ reißt mich der Strom der Gläubigen mit. Einige werfen sich voller Inbrunst der Länge nach auf den Boden und umrunden so den Tempel. Dieses Niederwerfen ist ein Reinigungsritual: Durch das Berühren des Bodens fließen Unwissenheit, Begierde und Hass sowie Stolz in die Erde ab. Man muss den Boden mit acht Punkten berühren: beide Knie, Bauch, Brust, Mund, Stirn und die Hände. Eine lange Schürze, Knieschoner und Holzkeile an Händen und Füßen sind der einzige Schutz bei diesen Strapazen. Es ist bewundernswert, mit welcher Hingabe sich die Tibeter hier ihre Religiosität erhalten haben – trotz fünf Jahrzehnten chinesischer Besatzung.
Zeugen einer großen Kultur: Jokhang und Potala
Vor dem Jokhang-Tempel herrscht zu jeder Tageszeit großes Gedränge. Er ist nicht nur das größte Heiligtum in Lhasa, sondern der am meisten verehrte Tempel im ganzen tibetischen Kulturkreis. Im Jokhang befindet sich nämlich die wertvolle Buddhastatue, die die chinesische Prinzessin Weng Cheng im 7. Jahrhundert als Mitgift hergebracht hat. Dieser Jowo („der Herr“), dem Wunderkräfte nachgesagt werden, ist bis heute das Ziel der Wünsche aller Pilger.
Vom Dach des Jokhang aus hat man einen wunderschönen Blick auf den Potala-Palast. Der erste Anblick des rot leuchtenden Bauwerks vor dem tiefblauen Himalaya-Himmel ist überwältigend. Der Palast thront auf einem 130 Meter hohen Felsen über der Stadt und dominiert ganz Lhasa. Im 17. Jahrhundert begann der damals fünfte Dali Lama mit dem Bau des Potala als Manifestation der weltlichen und geistlichen Macht.
Der Anstieg auf den Hügel bis zum eigentlichen Palasteingang ist kräfteraubend – Lhasa liegt ja auf 3.680 Metern Höhe. Die Dimensionen des Bauwerks sind gigantisch: Der Potala ist rund 400 Meter lang, die Mauern an der Basis bis zu fünf Meter stark. In 13 Stockwerken befinden sich etwa 1.000 Räume und 10.000 Kapellen.
Im Innern eröffnet sich die mystische Welt des tibetischen Buddhismus: Durch lange, dunkle Gänge führt der Weg vorbei an zahllosen Buddha-Statuen und Statuen der Boddhisatvasa sowie Gemälden und Thangkas. In den dunklen Kapellen brennen
Hunderte Butterlampen, die von weit her angereiste Pilger mitgebracht haben. In den Privatgemächern des letzten Dalai Lama muss ich unentwegt an Heinrich Harrers „Sieben Jahre in Tibet“ denken. Harrer beschreibt in dem Buch unter anderem, wie der junge Dalai Lama von der Dachterrasse des Potala mit seinem Fernrohr das Leben und Treiben in der Stadt beobachtete. Durch meine Tibet-Reise konnte ich mir den Traum erfüllen, den Harrers Buch in mir geweckt hatte …