Die Eröffnung der unteren Wiental-Linie und der Verbindungsbahn

Neue Freie Presse, Morgenblatt, Nr. 12519/1899, 1. Juli 1899, S. 6
01.07.1899

Der Verkehr, der heute vormittags gleich in den ersten Frühstunden so überraschend stark eingesetzt hatte, hielt den Tag über in gleicher Intensivität an. In den Nachmittagsstunden von 4 Uhr an erfuhr der Verkehr sogar eine beträchtliche Steigerung, der sich von der Stadt in die Vorstädte hinaus vollzog. Dies war die Zeit, wo die Geschäftsleute, Beamten etc., die den Tag über durch ihre Beschäftigung in der Stadt festgehalten waren, nun die Züge benützten, um ihre Sommerwohnungen aufzusuchen. Besonders die Stationen Hauptzollamt und Karlsplatz waren die Sammelpunkte und boten in der Zeit zwischen 4 und 6 Uhr abends ein sehr lebhaftes Bild. Kaum hatte der Zug die Station verlassen, da war rasch wieder die Bahnhofshalle von Fahrgästen gefüllt, die mit großem Eifer die leichtfasslichen Fahrpläne an den Wänden studierten oder die Bänke, die sich zur Bequemlichkeit des Publikums in der Halle befinden, besetzten. Trotzdem mit unzweifelhafter Klarheit schon beim Lösen der Fahrkarte in der Halle mit großen Lettern zu lesen war, welche Seite des Perrons zur Abfahrt zu benützen war, kamen doch häufig Irrungen und Missverständnisse vor. Namentlich viele Frauen konnten sich nicht zurechtfinden und irrten von einem Perron auf den anderen, bis sie sich orientiert hatten. Im Ganzen geschah die Abfertigung der Züge mit erstaunlicher Präzision und Raschheit.

Die Züge Praterstern-Hütteldorf, die jetzt von sechs zu sechs Minuten verkehren, werden an Sonntagen alle drei Minuten abgelassen werden, während die Strecke zur Südbahn alle 18 Minuten befahren wird. Auch aus dieser Linie war der Verkehr ein sehr lebhafter. Eine praktische Neuerung wurde auch bezüglich der Durchlochung der Fahrkarten getroffen. Während die Einzwickung der Anfangsbuchstaben der Stationsnamen auf den Karten bis jetzt nur teilweise an der Wiental-Linie eingeführt war, ist diese Art der Lochung jetzt auf allen Strecken gebräuchlich. Dadurch wird die Kontrolle ungemein erleichtert, da die ausgeschnittenen Buchstaben ein auffallendes Merkmal bilden. Zur besseren Orientierung wurde vorläufig auf den Hauptstationen die Umsteigstation ausgerufen; für dir Folge wird aber hievon Abstand genommen werden. Nur im Winter oder bei trübem, regnerischem Wetter, wenn die Scheiben der Wagenfenster geschlossen und angelaufen sind und daher ein Ausblick auf die Stationen erschwert ist, werden die Namen der Halte-und Umsteigestationen in der Weise wie beim Eisenbahnverkehr angezeigt werden.

Ein großer Teil des Verkehrs in den Prater vollzog sich heute schon aus der Wiental-Linie. Viele Bewohner der inneren Stadt, der Land Landstraße und der Wieden benützten statt der Tramway die neueröffnete Strecke der Stadtbahn, um in den Prater zu gelangen. Besonders die Stationen Karlsplatz und Stadtpark wiesen in den Abendstunden eine starke Frequenz von Fahrgästen in den Prater auf; doch auch aus den entfernteren Stationen kommende Züge führten viele Praterbesucher mit sich.

Der heutige erste Tag der Eröffnung der Wiental-Linie hat demnach vollständig den Beweis erbracht, dass das Bedürfnis für diese wichtigste Linie der Stadt Stadtbahn tatsächlich vorhanden ist; wenn die Linien völlig ausgebaut und das Publikum Zeit gehabt haben wird, sich mit der Art des Verkehres zu befreunden, wird sich die Stadtbahn als unumgängliches Verkehrsmittel rasch einbürgern.

Ein Freund unseres Blattes schreibt: „Ich habe heute, am Tage der Eröffnung der ganzen Wiental-Linie, praktisch erprobt, dass es dem durch Berufsgeschäfte an die Stadt gebundenen Wiener nunmehr möglich ist, selbst kurze Pausen in der Tagesarbeit zu Ausflügen zu benützen, die man bisher an Wochentagen nicht unternehmen konnte. Wenn man im Freien – nämlich wirklich im Freien und nicht bloß in einem sogenannten Gasthausgarten – zu Mittag speisen wollte, so war man nur auf den Prater angewiesen, wohin man mit der Tramway fahren musste. Als ich nun heute gegen 2 Uhr mein Büro verließ und die herrschende Hitze es nicht verlockend machte, sich in ein geschlossenes Speiselokal zu setzen, da viel mir ein: Vielleicht kann ich mit der Stadtbahn hinaus in eine Restauration gelangen, wo ich beim Speisen im Grünen sitzen kann. Gedacht – getan! Ich ging zur nahen Station Stadtpark und fuhr mit einem um 2 Uhr passierenden Zuge hinaus, nach Hütteldorf, wo ich um halb 3 Uhr ankam. Dort suchte ich die Brauhaus-Restauration auf und hatte drei Viertelstunden Zeit für den Mittagstisch. Die Rückfahrt in die Stadt dauerte abermals eine halbe Stunde, und um ¾ 4 Uhr saß ich schon wieder in meinem Café auf der Ringstraße beim gewohnten Schwarzen. So hatte ich binnen zwei Stunden von der Ringstraße aus einen Ausflug nach Hütteldorf und zurück gemacht, draußen gespeist und hier noch eine Viertelstunde im Café gesessen, bevor ich um 4 Uhr mein Büro wieder aufsuchte.“

Quellen:
Neue Freie Presse, Morgenblatt, Nr. 12519/1899, 1. Juli 1899, S. 6

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9. Oktober 2017