Schmelztiegel Ober St. Veit

Vom „zuag‘rasten“ zum „waschechten“ Ober St. Veiter - eine Betrachtung am Beispiel des Spitzerhauses und der Kümmerlhäuser.
1800

Im Artikel „Ein Amtsweg durch St. Veit, vor 235 Jahren als die Häuser Nummern bekamen“ haben wir noch ein dörfliches Ober St. Veit beschrieben und im Artikel „Die ersten Fabriken Ober St. Veits“ die beginnende Industrialisierung und deren Niedergang.

Diese ehemaligen Fabriksgebäude mussten jetzt anders genutzt werden und nicht nur diese! Auch der Weinbau war nach jahrhundertelanger Tradition stark rückläufig und die Besitzer der Häuser mussten vermieten oder verkaufen.

Es fügte sich, dass Ober St. Veit just in dieser Zeit seiner herrlichen Lage wegen zur Sommerfrische und zum geschätzten Bauplatz vermögender Bürger wurde. Darüber hinaus begann eine unwiderstehliche Kraft auch in Ober St. Veit wirksam zu werden: Die Zuwanderung nach Wien. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begann sich deren übliches Ausmaß zu ändern, um in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast die Dimension einer Völkerwanderung anzunehmen, unterbrochen nur von den Jahren der Wirtschaftskrise ab 1873. Die Bevölkerung in dem Gebiet des heutigen Wiens explodierte von rd. 0,4 Mio. im Jahre 1830 auf rd. 2,1 Mio. im Jahre 1910 (heute sind es rd. 1,6 Mio.). Die meisten Menschen kamen in dieser Zeit aus Böhmen und Mähren. 1880 waren 38,5 % der Wiener Bevölkerung in Wien geboren und 26,7 % in Böhmen und Mähren.

Folgende politischen und wirtschaftlichen Ursachen waren dafür maßgeblich:

- Die Abnahme der Macht des Grundherren über die Menschen auf seinem Gebiet. Die Reformen nach der Revolution 1848 hoben die Untertänigkeit der Landbevölkerung endgültig auf und machte sie damit mobiler.

- Struktur und Marktbedingungen in der Landwirtschaft änderten sich gewaltig. Familien und das Gesinde konnten in den betroffenen Regionen nicht mehr ausreichend ernährt werden, Landflucht war die Folge.

- Dem gegenüber stand die industrielle und gewerbliche Expansion in Wien mit ihrem Bedarf an Arbeitskräften. Die Ausstrahlung als Reichshaupt- und Residenzstadt verstärkte diesen Sog.

- Der Ausbau des Eisenbahnnetzes ab ca. 1850 war Katalysator dieser Umwälzungen und erhöhte die Mobilität der Menschen.

Von den Zuwanderern konnten sich aber nur die wenigsten dieses Transportmittel leisten. Die meisten kamen auf anderen Wegen, viele zu Fuß, das Gepäck tragend oder auf Handwägen. Rund 14 Tage dauerte der Marsch von Böhmen nach Wien, inkl. der Rast- und Bettelzeit.

Ober St. Veit erwies sich wegen seines „Strukturwandels“ als besonders aufnahmefähig. In den Häusern wurden Wohnungen angelegt, die zur Vermietung an Sommergäste oder eben Zuwanderer dienten. Landwirtschaftliche Flächen wurden zu Baugrund. Das Nebeneinander völlig unterschiedlicher sozialer Schichten scheint nicht gestört zu haben, nur eine räumliche Trennung bildete sich heraus: Villen gegen die Berge hinauf und Arbeiterburgen zum Wienfluss hinunter. Die geschlossenen Fabriken wurden zu „Zinskasernen“ für die ärmsten der Zuwanderer. Im Laufe der Zeit übertrugen sich die Namen der Besitzer auf diese Gebäude: Die ehemalige Druckfabrik wurde zum „Spitzerhaus“ (Bernhard Spitzer erbte sie 1877 von Benjamin Spitzer) und die Zuckerfabrik wurde zu den „Kümmerlhäusern“ (der aus Württemberg eingewanderte Johann Kaspar Kümmerle und seine aus Fischamend stammende Gattin Barbara hatten sie von 1860 bis 1862 um insgesamt 25.000 Gulden erworben). Die Kümmerles waren sehr vermögende Geschäftsleute und erwarben in der Folge zahlreiche weitere Liegenschaften in Ober St. Veit, Unter St. Veit und den umliegenden Ortschaften bzw. späteren Bezirksteilen. Ein weiter Bereich zwischen Auhofstraße und späterer Amalienstraße ist als „Kümmerlgründe“ (das „e“ von Kümmerl“e“ wurde bald verschluckt) in die Ortsgeschichte eingegangen.

Zurück zu den „Zinskasernen“: Die erforderlichen Investitionen hielten sich dem damaligen Standard entsprechend in Grenzen, denn das Wasser gab‘s beim Brunnen, später beim Hydranten und das WC ebenfalls außerhalb des Gebäudes. Stromnetze waren erst ab 1880 im Kommen, zunächst im öffentlichen Bereich und allmählich erst in den Privatwohnungen. Das einzige Erfordernis für jede Wohneinheit war ein Kamin für die Küche.

Das Spitzerhaus war ein kompakter Bau mit geschlossenem Innenhof, der von markanten, balkonähnlichen Gängen in allen Stockwerken umgeben war.
Das Spitzerhaus (Auhofstraße 120) im Jahre 1933. Es war Geburtshaus des Ober St. Veiter Heimatdichters Vinzenz Jerabek und rund 100 Jahre lang (von ca. 1860 bis 1958) Unterkunft der armen Leute. Links sieht man einen Teil des 1912 erbauten Hauses Nr. 120a (Elektro Korkisch ist darin) und rechts 2 Fensterachsen der Kümmerlhäuser.
<p>Das Spitzerhaus (Auhofstraße 120) im Jahre 1933. Es war Geburtshaus des Ober St. Veiter Heimatdichters Vinzenz Jerabek und rund 100 Jahre lang (von ca. 1860 bis 1958) Unterkunft der armen Leute. Links sieht man einen Teil des 1912 erbauten Hauses Nr. 120a (Elektro Korkisch ist darin) und rechts 2 Fensterachsen der Kümmerlhäuser.</p>
Die Kümmerlhäuser waren - wie schon dem Namen zu entnehmen ist - eine Ansammlung mehrer unterschiedlich hoher Gebäude, teilweise auch aus Holz gebaut. Die Häuser standen um einen unter dem Straßenniveau gelegenen Hof, in den man durch eine große Einfahrt aus der Aufhofstraße hinunter gelangte.
Das Bild zeigt den östlichen Teil der Kümmerlhäuser (Auhofstraße 118). Die Auhofstraße verlief vor dem Haus auf der linken Seite, rechts ist ein langer, ebenerdiger, teilweise aus Holz gebauter Schuppen zu sehen. © Presch, Ernst
<p>Das Bild zeigt den östlichen Teil der Kümmerlhäuser (Auhofstraße 118). Die Auhofstraße verlief vor dem Haus auf der linken Seite, rechts ist ein langer, ebenerdiger, teilweise aus Holz gebauter Schuppen zu sehen.</p><p><i>&copy; Presch, Ernst</i></p>
Die Front der beiden Mietobjekte, war lang und reichte von der noch nicht gewesenen Testarellogasse stadteinwärts bis fast zur Höhe des Preindlsteges. Von dort an trennten Wiesen vom nächsten, damals noch nicht zusammengewachsenen Dorf. Ihre Größe ließ die Häuser zu „Regulatoren für die Wohnungsnot“ werden, wie es der bekannte Ober St. Veiter Heimatdichter J. Vinzenz ausdrückte. Wenn nirgends eine Wohnung zu haben war, in einem der beiden Häuser konnte man immer eine bekommen.
Situationsplan 1869 anlässlich der Parzellierung der Gründe nördlich der Auhofstraße.
<p>Situationsplan 1869 anlässlich der Parzellierung der Gründe nördlich der Auhofstraße.</p>
Die Besiedelung muss gleich nach dem Ende der Fabriksära begonnen haben. Die Konstkriptionsbögen 1869 und ein Protokoll des Gemeindevorstandes aus dem Jahr 1870 geben erste Eindrücke vom Leben in diesen Häusern. Dem Protokoll zufolge zeigte der Hausbesitzer Benjamin Spitzer einen Exzess der Hutmachergesellen Leopold Mayer und Bartholomäus Frank an. Sie drangen abends in sein Haus und verfolgten Herrn J. Trunninger, welcher sich mittels einer Hacke verteidigte. Franz Gruber, Wäscher in diesem Haus und Raimund Kuttig bestätigten dies. Die Übeltäter waren geständig und wurden mit 2 Gulden und 50 Kreuzer Geldstrafe oder 12 Stunden Ersatzarrest bzw. 5 Gulden Geldstrafe oder 24 Stunden Ersatzarrest bestraft. Beide nahmen das Urteil an und erlegten die Geldstrafe, beide waren Analphabeten.

Einen Eindruck von der Größe der Wohnungen gibt folgender Änderungsplan:
Der Plan zeigt drei Wohungen im Nordost-Eck des Spitzerhauses: Alle haben eine Küche und ein Zimmer, Gesamtfläche pro Wohneinheit bis ca. 20m2. Die Fläche links (=nördlich) des Gebäudes wird noch als „Maulber Au“ bezeichnet.
<p>Der Plan zeigt drei Wohungen im Nordost-Eck des Spitzerhauses: Alle haben eine Küche und ein Zimmer, Gesamtfläche pro Wohneinheit bis ca. 20m2. Die Fläche links (=nördlich) des Gebäudes wird noch als „Maulber Au“ bezeichnet.</p>
Den Konskriptionsbögen zur Volkszählung 1880 kann die unten abgebildete Zusammensetzung der Bewohner in den beiden Häusern entnommen werden. Der Durchschnitt von 6 Personen pro Wohnung im Spitzerhaus gibt einen Eindruck von der Wohndichte.
Richtige Ober St. Veiter waren in den Häusern kaum zu finden. Bei den in Ober St. Veit geborenen Bewohnern handelt es sich fast ausschließlich um die hier geborenen Kinder der Zuwanderer. Außerdem kamen die Menschen nicht direkt nach Ober St. Veit, sondern immer erst nach einer oder mehreren Zwischenstationen in den Wiener Vorstädten und Vororten.

Anhand der Geburtsorte der Kinder lässt sich vor allem bei kinderreichen Familien der Weg dieser Wanderung nachvollziehen: Zum Beispiel anhand des aus Mähren eingewanderten Ehepaares Fabian und Barbara Ferenz. Fabian, von Beruf Weber, war Hausbesorger im Spitzerhaus, seine Gattin führte den Haushalt und übernahm Handarbeiten. Das erste Kind kam 1862 noch in Mähren zur Welt, das zweite 1868 in Meidling, das dritte 1870 in Wieden und das vierte 1878 in Ober St. Veit. Oder anhand der Familie Augustin und Wilhelmine Berger aus Mähren; er war Zimmermannsgehilfe und sie Wäscherin im Taglohn. Das erste Kind kam 1863 in Baumgarten zur Welt, das zweite 1867 in Hütteldorf und das dritte 1878 in Ober St. Veit. Manche der Familien blieben und wurden zu „waschechten“ Ober St. Veitern, andere zogen auf der Suche nach Arbeit oder günstigerer Unterkunft weiter.

Als Berufe wurden meist Taglöhner und Fabriksarbeiter bei den Männern, Handarbeiterin, Wäscherin, Näherin oder Dienstmagd bei den Frauen angegeben. Es wurden auch Handwerke wie Zimmermann, Tischler, Wagner, Schmied, Seiler, Sattler oder Schuhmacher als Berufe genannt und in manchen Fällen bei einem Meister oder in der Fabrik ausgeübt. Oft mussten sich diese Fachleute allerdings mit angelernten Tätigkeiten oder Hilfstätigkeiten in den Fabriken beim Stofffärben und -bedrucken oder beim Lederzurichten begnügen. Sehr zahlreich waren die Hut- und KappenmacherInnen, offensichtlich bedingt durch die nahegelegene Hutfabrik Bossi. In ihrem Gewerbe selbständig tätig waren (außer den weiter unten genannten) nur die Witwe des Seilermeisters Hinterleitner, die Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge in dieser Profession beschäftigte, ein Schlossermeister, ein Federschmückerfabrikant und - einige Hausierer.

In einem jedoch unterschieden sich die Kümmerlhäuser wesentlich vom Spitzerhaus: Während im Spitzerhaus nur fremde Mieter aus meist einfachsten Verhältnissen lebten, logierten in den Kümmerlhäusern auch reiche Leute. Allen voran in der „Wohnung Nr. 1“ (es muss sich dabei wohl um ein ganzes Haus gehandelt haben) die Familie Kümmerle mit ihren drei Kindern. Herr Kümmerle gab als Beruf Haus- und Realitätenbesitzer an, war aber auch „Großfuhrmann“. Er hatte 18 Pferde im Haus untergestellt und beschäftigte 1 Kutscher und 9 Pferdeknechte. Der älteste Sohn Johann Kümmerle war bereits als „Lederzurichter“ im gleichen Haus selbständig tätig.

Die nächste Besonderheit in den Kümmerlhäusern war die beträchtliche, ebenfalls auf dem Areal untergebrachte Milchmeierei des Carl und der Maria Seeböck. Sie stammten vermutlich aus einer Penzinger Milchmeierfamilie. 37 Kühe, 3 Pferde und 6 Schweine besaßen sie und 8 Leute standen in ihren Diensten, darunter 3 Schweizer (Schweizer=Pächter oder Leiter einer Meierei).

Ja, und dann gab es damals schon eine Gastwirtschaft und einen Fragner (Krämer). Die Gastwirtschaft gehörte damals der Frau Rosina Kellner. Im Hause wohnte allerdings bereits eine Familie Schröder, deren Namen die Gastwirtschaft später einmal tragen sollte. Den Krämerladen betrieb Herr Gustav Johann Reiner.
Das Spitzerhaus und eines der Kümmerlhäuser während des Abbruchs des Spitzerhauses 1958. Zu sehen ist rechts noch das Gasthaus Leopold Schröder und teilweise unverbaute Gründe südlich der Auhofstraße.
<p>Das Spitzerhaus und eines der Kümmerlhäuser während des Abbruchs des Spitzerhauses 1958. Zu sehen ist rechts noch das Gasthaus Leopold Schröder und teilweise unverbaute Gründe südlich der Auhofstraße.</p>
Aus den bisher genannten Namen lässt sich Deutsch als die Umgangssprache der Zuwanderer annehmen. Und tatsächlich: In der Volkszählung 1880 gaben die in Ober St. Veit wohnhaften Personen ausnahmslos Deutsch als Umgangssprache an.

Soviel zum Beginn der Ära als Zinshäuser. Vom Leben in diesen Gebäuden zu einer Zeit, an die sich ältere Ober St. Veiter noch erinnern, können Sie in dem Artikel "Über das Leben in den Kümmerlhäusern" nachlesen.

Quellen:
Volkszählungen 1869 und 1880
Gemeindeamtsakten von St. Veit (ausgewertet von Gebhard Klötzl und Josef Holzapfel)

John Michael, Lichtblau Albert: Schmelztiegel Wien einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten. Böhlau Verlag, Wien 1990.

hojos
im Februar 2007