Der Hudraxl
Aus der Sammlung der Erzählungen des Wiener Heimatdichters J. Vinzenz unter dem Titel: „Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt“.
1956
Als ich noch ein Jüngling mit lockigem Haar gewesen bin, traf ich eines Tages meinen ehemaligen Volksschullehrer. Er lud mich ein, dem von ihm gegründeten Gesangverein beizutreten. Das war vor sechzig Jahren. Der Fußball war bei uns noch nicht erfunden, dafür blühte das Gesangwesen und die Turnerei, denen sich ein großer Teil der Jugend zuwandte.
Ich folgte meinem einstigen Lehrer und wurde Mitglied des Ober-St.-Veiter Männergesangvereins, dessen Chormeister er war. Es war damals noch eine sehr vergnügliche Zeit. Wir waren eine sozusagen gemischte Gesellschaft, Arbeiter, Beamte, Lehrer usw. Die Übungsabende fanden Samstag abends statt und dauerten, wenigstens für uns Junge, bis Sonntag früh. In dieser Zeit also stand das Gesangwesen in voller Blüte und an allen Ecken und Enden gab es Gründungsfeste, Fahnenweihen und Liedertafeln. Einmal lagen Einladungen für drei solcher Feste vor. Wir entschlossen uns für eine Fahnenweihe in einem Marktflecken in einer weingesegneten Gegend. Für den besten Chor war ein silberner Trinkbecher ausgesetzt.
Wir hatten unser Erscheinen mit einem Chor angemeldet. Wie er hieß, weiß ich heute nicht mehr, es war darin von einem Röserl die Rede, das, verlassen von seinem Geliebten, in einen dunkelgrünen See sprang, worauf an derselben Stelle wunderbare weiße Rosen erblühten. Es hat damals schon geistreiche Leute gegeben, die solche Lieder als „Schmachtfetzen“ bezeichneten. Sie machten aber auf die Zuhörer mehr Eindruck als die gekünstelten Chöre, die später an Stelle der einfachen, innigen Lieder traten.
Kurz vorher war ein schüchterner, junger Mann unserem Verein beigetreten. Auf der Liste hatte er als seinen Beruf „Hudraxl“ angegeben. Von einem solchen Beruf hatten wir niemals was gehört. Der Chormeister schüttelte den Kopf und meinte, wenn der Neue es mit dem Gesang so halte wie mit der Orthographie, dann hätten wir keinen guten Fang gemacht. Ich aber studierte an dem Namen so lange herum, bis ich den Sinn erfasst hatte. „Hört mir zu“, sagte ich und begann langsam zu lesen:
„Hu-tra-gsell.“
„A so, a Huatragsell (Hutergeselle) is er!“ lachten alle, und die Sache war erledigt.
Als unser Hudraxl – der Name blieb ihm – die Stimmprobe ablegte, da blickte der Chormeister erstaunt auf. Da waren Wohllaut und Schmelz in der Stimme, wie keiner von uns solches aufzuweisen hatte. Noten hatte der Hudraxl nicht gekannt, auch keine später erlernt. Was ihm der Chormeister vorspielte, sang er fehlerlos nach. Und wir hatten einen Solisten wie kein anderer Verein. Wenn er nur nicht so ängstlich gewesen wäre, der Hudraxl. Bei einem Chor, wo er das Solo zu singen hatte, erschrak er immer, wenn er sich allein singen hörte. Das ist später freilich anders geworden. Bei der Fahnenweihe im Weinland, bei der wir uns angemeldet hatten, sollte der Hudraxl zum ersten Mal das Lied vom dunkelgrünen See singen.
Als wir in dem Orte ankamen und von den dortigen Sangesbrüdern begrüßt wurden, sagte auf einmal der Brummer-Schurschi: „Schauts in Hudraxl an! Dem ist schlecht!“
Und da gestand der, dass er nicht singen werde, weil er vor den vielen Menschen sich schrecke. Kein gutes, kein ärgerliches Zureden half. Sang er nicht, dann musste der Chormeister absagen, was jedenfalls eine Blamage bedeutete. Da erkundigt sich der Hornwart, wie lange wir Zeit bis zum Auftreten hätten. Drauf sagt er zum Chormeister, er soll nicht absagen, der Hudraxl wird singen. Nimmt hierauf diesen unterm Arm und führt ihn zu einem Bekannten in den Weinkeller. Und als er mit seinem Schützling wieder herauskommt, lacht der unbändig und behauptet, dass sich die Bäume und Häuser um ihn herumdrehen. Und kann es gar nicht erwarten, wieder ins Wirtshaus zu kommen, er will singen!
Jetzt kriegts der Chormeister mit der Angst, der Hornwart aber verpflichtet sich, dass alles in Ordnung vor sich gehen werde, und als wir das Podium betreten, wird der Hudraxl unauffällig hinauf geschoben und es geht los. Und der Hudraxl sang so freudig und unbekümmert das Lied vom unglücklichen Röserl wie noch nie in seinem Leben. Dreimal musste der Chor wiederholt werden, dann ertönte ein Beifall, dass die Weingläser auf den Tischen tanzten und die Kühe in den umliegenden Bauernhäusern zu brüllen begannen. Unter allgemeiner Zustimmung ist uns der Becher überreicht worden.
Der Hudraxl war merkwürdigerweise nüchtern geworden. Er hatte sich seinen Schwips ganz einfach weggesungen. Er hat in der Folgezeit seine Ängstlichkeit überwunden, es ist niemals mehr zu einem Lampenfieber gekommen, und wir haben mit ihm noch so manche Erfolge eingeheimst.