Elisas Canetti erzählt – in der Molkerei

Elias Canetti wohnte ab dem Frühjahr 1927 in der Hagenberggasse 47. In dem Abschnitt "Der Blick auf Steinhof" seiner "Fackel im Ohr" porträtiert er die Inhaber des Milchgeschäftes, in dem er sein Frühstück einnehmen zu pflegte. Es handelt sich möglicherweise um die Meierei Alois Winter in der Auhofstraße 191.

In der Auhofstraße, fünf Minuten von mir den Hügel hinunter, war eine Molkerei, in der man Joghurt, Brot und Butter bekam, die man am einzigen Tischchen des Ladens, auf dem einzigen Stuhl sitzend, in Ruhe zu sich nehmen konnte. Da aß ich mein Frühstück, bevor ich ins Laboratorium fuhr. Wenn ich zuhause blieb, kam ich auch später untertags und lebte in diesen Jahren gerne von Joghurt und Butterbrot, denn was immer ich mir ersparen konnte, blieb für Bücher.

Frau Fontana, die diese Filiale der Molkerei betrieb, hatte nichts mit Frau Schicho (Anm.: die Hausbesorgerin in der Hagenberggasse 48) gemein. Ihre Stimme war so spitz wie ihre Nase, die sie in alles hineinsteckte. Während meines Mahls erfuhr ich Details über jeden Kunden, der das Lokal verließ, und über jeden, der voraussichtlich erscheinen würde. Wenn diese Gegenstände erschöpft waren, was gar nicht so rasch geschah, kam ihre Ehe an die Reihe, es war da von Anfang an nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen. Frau Fontanas erster Mann war in russische Kriegsgefangenschaft geraten und nach Sibirien gekommen, wo er einige Jahre verbrachte und dann an einer Krankheit starb. Ein Freund von ihm war spät von dort zurückgekommen, mit letzten Grüßen, seinem Ehering und einem Foto, einem Gruppenbild, auf dem man den Verstorbenen, seinen Freund und andere Gefangene sah, es war ein kostbares Bild, von dem der Besitzer sich nie trennte, obwohl er es gern herzeigte. Alle hatten sich Bärte wachsen lassen und zu erkennen war keiner. Der Besitzer pflegte auf einen Bart zu zeigen, den zweiten unten von rechts, und sagte: „Des war i! Kennen S’ mi net? Ja, das waren Zeiten!“ Dann nahm er eine feierliche Miene an und zeigte auf einen anderen Bart, den zweiten unten von links, und erklärte: „Und das war mein Freund und Vorgänger, sagen S’ ruhig der erste Herr Fontana, aber natürlich hat er anders g’heißen. Da fragen S’ besser die Frau. Die weiß ein hohes Lied von ihm zu singen.“

Denn über den zweiten Mann wusste Frau Fontana kein hohes Lied zu singen. Sie stand sehr früh auf, das Geschäft öffnete früh; er schlief den ganzen Vormittag, er kam spätnachts mit der letzten Stadtbahn um eins, manchmal noch später zu Fuß, aus seinem Stammcafé in der Stadt zurück, die Frau schlief dann längst und er sah sie nicht. Am Nachmittag, während sie in ihrer Filiale war, stand er auf und fuhr zu seinen Spezis wieder in die Stadt hinein.

Sie geriet leicht ins Keifen, er mied sie, so gut er konnte. Aber am frühen Nachmittag, bevor er in die Stadt hineinfuhr, löste er sie doch manchmal im Geschäft ab. Auf diese Weise lernte ich ihn kennen, und er erzählte mir von Sibirien. Nach etwa zwei Jahren war die Spannung zwischen den beiden so groß geworden, dass sie ihn aus der Wohnung verwies. Es sei überhaupt keine Ehe, sie hätten nichts miteinander zu schaffen. Er benütze ihre Wohnung nur als Schlafstätte. Sonst spräche er nicht einmal mit ihr. Immer wenn sie wach sei, schlafe er, und kaum schlafe sie ein, wache er wieder auf.

Schließlich ging er und sie teilte es mir am nächsten Morgen befriedigt und erbittert zugleich mit. Er hatte kaum etwas mitgebracht, er hatte ja nichts, aber was er hatte, das nahm er wieder mit, sogar ein paar rostige Nägel. „Stellen Sie sich vor, die rostigen Nägel hat er mitgenommen, net einen Nagel hat er mir dagelassen.“ Es klang so, als hätte sie gern einen rostigen Nagel von ihm behalten – zum Andenken? zum Ärger? –, und er hatte ihr nicht einmal einen Nagel gegönnt. Wenn sie noch neu gewesen wären, aber das waren sie nicht, es waren alte, rostige Nägel.

Herr Fontana war sehr klein und ging eingeknickt und vorn­übergebeugt, als hätte er einen schweren Bruch. Er hatte kein Haar mehr, sah hager und ramponiert aus, die Augen wirkten so, als ob sie im nächsten Moment triefen würden, doch sie troffen eigentlich nicht. Wenn er im Geschäft war, fügte es sich, dass die prächtige, üppige Gräfin, die mit ihrer Familie gleich in der Nähe wohnte, hereinkam, eine große, starke Frau, reitbewusst, jagdgeschult – obwohl ich sie nie zu Pferde oder auf der Jagd gesehen hatte –, sie hatte eine laute Stimme und kaufte so ein, als sei das Milchgeschäft nur um ihretwillen vorhanden. Doch war es gar nicht so viel, was sie kaufte, denn sie hatte nie genug Geld mit sich. Manchmal brachte sie ihre drei kleinen Kinder mit, wobei man sofort an ihren hervorragenden Busen denken musste, dem Herrn Fontana fielen die Augen aus den müden Höhlen heraus. Er bediente die Gräfin bereitwillig und nicht gehässig, sonst ärgerte er sich über jeden, der in seiner Zeit hereinkam. Sie war noch kaum ganz aus der Türe heraus, als er sich an mich wandte und begeistert und nun wirklich triefend sagte: „A Mords-Stuten! A Mords-Stuten!“

Ich glaube, er kam nur, um sie zu sehen, zu dieser Zeit in den Laden – vielleicht hätte er sonst noch länger geschlafen –, und sie, wie auf Verabredung, kam immer zur selben Zeit und ließ sich nur von ihm bedienen. Manchmal sammelte sich vor ihr auf der Theke des Milchgeschäfts alles, was sie verlangt hatte, an, dann – sie war eine sehr schlechte Rechnerin – begann sie nachzurechnen. Herr Fontana, der sie gern aufhielt, um sie länger betrachten zu können, half ihr beim Zusammenzählen. Immer hatte sie viel zu wenig Geld, aber trotz seinem Wohlgefallen an ihr bekam sie nie Kredit, und so musste einer der verlangten Gegenstände nach dem andern von der Theke wieder verschwinden. Sie schämte sich nie für diese Operation, dass sie nicht rechnen konnte, war keine Schande, denn sie verstand sich dafür auf Pferde. So gab sie, ohne je Unmut zu zeigen, eine Sache nach der anderen zurück, Herr Fontana erlaubte sich, ihre Hand mit einem zärtlichen Druck zu öffnen, im Nu übersah er, was sie an Geld bei sich hatte, er war es, der dann plötzlich ihrer Rückgabe von Gegenständen ein Ende machte und sagte: „Jetzt stimmt’s. So viel haben S’ gerade!“

Sie vermisste ihn, als er ging, denn nun wurde sie von Frau Fontana bedient, die für ihre Unfähigkeit im Rechnen weniger Verständnis zeigte und insgeheim betrügerische Absichten dahinter vermutete. Auch sie hatte ihre Aussprüche, wenn die Dame mit den Kindern den Laden verließ, und sagte dann: „Die war auf keiner Schul’. Die kann no net zählen und schreiben kann’s a net. Jetzt stellen S’ sich bloß vor, dass so eine Person mein’ Laden führete!“ Die Gräfin, die nicht unempfindlich für diese Feindseligkeit war, sagte mir draußen: „Schade, dass der feine Mensch fort ist! Das war ein feiner Mensch!“ Es war klar, dass sie von den rostigen Nägeln nichts gehört hatte.

Auch ich vermisste Herrn Fontana, besonders die Gespräche über Sibirien. In Wirklichkeit lebte er noch dort. Die Kumpane in seinem Stammcafé hörten ihn gern an, wenn er von Sibirien erzählte. Er müsse täglich hin, sagte er zu mir, die warteten auf ihn, die wollten, dass er weiter erzähle. Da gebe es noch viel, er sei noch lange nicht damit fertig. Er könne ein Buch über Sibirien schreiben. Aber es falle ihm leichter, mündlich davon zu erzählen. Die Frau sei gleich das erstemal eingeschlafen, als er etwas über Sibirien sagte. Für die war alles: der Ehering. Das habe ihm schon sein Freund, ihr erster Mann, gesagt: Um Gottes willen, bring ihr den Ehering zurück, die hat sonst keine ruhige Stunde! Für die ist das ein Wertgegenstand. Er hätte ihn ja behalten können. Aber was er einem toten Freund versprochen hat, das hält er. Und wenn’s eine Million gewesen wäre, er hätte sie gegen Finderlohn abgegeben. Und was hat er von seiner ganzen Treuherzigkeit? Jetzt hat er eine Milchfrau am Hals statt einer Gräfin.

Quellen:
Canetti, Elisas: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931.

hojos
im Dezember 2009