Der Gang über das Joch
Nach einer Kurzgeschichte von Alma Holgersen
24.12.2023
„Und jetzt muss ich halt geh'n“, sagte Maria. Ihre Wangen glühten, denn sie war lang beim Herd gesessen. Sie wollte wieder heimwandern über das Joch. Die Großmutter war gestorben und sie war hierher gekommen, um ihr Erbe abzuholen: zwei Gewänder, zwei Schürzen und sechs alte Hinterglasbilder. Alles wurde im großen Rucksack verstaut. Die Gewänder freuten sie, den Bildern schenkte sie wenig Beachtung. Maria verabschiedete sich; sie trat hinaus in den grauschimmernden Dezembertag.
Mit erhobenen Kinn stapfte Maria dahin, spielerisch trat sie in ihre Fußstapfen von gestern, als sie über das Joch hierhergekommen war, dann nahm der Wald sie auf. Der Weg war einsam und unbegangen. Schließlich kamen der Bergzaun und die Almen mit ihren dunklen, ineinander verschachtelten Hütten. Von der Wichtigkeit und dem Ernst ihrer fünfzehn Jahre förmlich getragen, lief Maria steil bergan. Ihre roten Backen hatten dieselbe Farbe wie die Füßchen der Schneehühner, die sich knarrend erhoben.
Als es zu schneien begann, war sie schon hoch oben bei den alten Zirben mit ihren gewaltigen Leibern und den ausladenden Ästen; aus ihnen klang dumpf und bedrohlich der aufbrausende Wind. Erst schwankten die dunklen Schneeflocken aus dem einsamen Himmel, später wurden sie zu schrägen, in die Unendlichkeit gespannten Schnüren. Das Schneegestöber wurde immer dichter und Maria verschwand darin, gemeinsam mit den großen Zirben. Noch vor dem Joch stürzte der Sturm über sie herein, plötzlich, eisig und mit maßloser Gewalt. Tief zog sie das wollene Tuch in die Stirn. Ihre Fußstapfen von gestern waren längst verweht. Maria sah nichts mehr; fast wäre sie mit dem Kopf an einen Felsen gestoßen.
Sie hockte sich in eine Mulde. Angst hatte sie keine, kannte sie doch diese plötzliche Wildheit, die von einem Moment zum anderen die hell schimmernde Natur in eine dunkel brausende Hölle verwandeln konnte. Instinktiv begann sie, sich dagegen zur Wehr zu setzen und aus dem angewehten Schnee einen Wall um sich herum zu bauen. Doch bald schmerzte das Gesicht, sie schützte es mit den müde gewordenen Armen und kauerte sich in ihre Mulde. Sie drohte einzuschlafen, und das Schreien, Fauchen, Rasseln des Sturmes verklang in ihren Ohren zu einem monotonen Sausen.
Plötzlich drang in dieses monotone Sausen ein klapperndes Geräusch, vermengt mit zarten, mahnenden Stimmen. Maria schreckte auf. Das Klappern konnte sie sich erklären – sie hatte sich im Einschlafen bewegt und die Hinterglasbilder in ihrem Rucksack vollführten diese Geräusche – die Stimmen aber musste sie geträumt haben. Sie erinnerte sich auch an die Worte dieser Stimmen: „Der Schneewall ist zu niedrig!“ Sie begann zu beten, doch was half's, die Gebete waren ebenso zerfetzt, zerfranst und durcheinander wie das Schneegestöber.
Jetzt begann Maria die Glastafeln aus dem Rucksack zu nehmen, und sie – ganz wie ein spielendes Kind – auf dem Schneewall um sich aufzubauen. Sie nahm auch die Laterne aus dem Rucksack, auf dem Boden ihrer Grube gelang es ihr, die Kerze anzuzünden. Das Licht der Laterne ließ alles hell aufscheinen – ganz nah waren jetzt die zarten Gesichter auf den rundherum, lückenlos aneinandergereihten Glastafeln. Moosgrüne Hintergründe, strahlendweiße Lilien; und die Jungfrau hatte einen leuchtend blauen Mantel an. Das Jesuskind sah dem Mädchen kindlich ernst ins Gesicht. Noch nie hatte Maria Farben so schön und glühend gesehen. Das Unwirkliche war so nah und hatte alles Wirkliche verdrängt. Durch den flackernden Laternenschein, durch ihren rauchenden Atem bekamen die Bilder ein geheimnisvolles Leben.
Die Gottesmutter selbst kam auf sie zu, bis zu den Knien versunken im tiefblauen Schnee, ein goldener Himmel öffnete sich und erhellte das stumpfe Grau der beginnenden Nacht. Maria hatte keine Uhr, doch sie sah die wilde Flut der Finsternis und den Herrn Jesus, der sie anblickte.
Maria hüllte sich zusätzlich in die Gewänder aus ihrem Erbe und schlief beruhigt ein. Die ewigen Gestalten der Heiligen umgaben sie, die Jungfrau, der Jesusknabe und der Nährvater Josef und im flackernden Rot hing triumphierend die Sichel der heiligen Notburga, sie schwebte vor der finsteren Nacht dahinter. Sie behüteten die schlummernde Kleine, sie bildeten, aneinandergereiht, ein Haus, ein Obdach, ein Gemach, aufgestellt gegen das völlige Dunkel, gegen die Dichte dieser Finsternis auf Erden. Auch der heilige Michael und der heilige Florian waren durch den tiefen Schnee gekommen, um Maria zu schützen. Außerhalb des kleinen Lichtscheines krachte und polterte der Sturm, aber in den geschützten Raum einzudringen vermochte er nicht.
Im Morgengrauen war der Raum zu einer sicheren Höhle geworden. Das Mädchen erhob sich wohlbehalten, nur ein wenig steif. Die Laterne war längst ausgebrannt, rundherum herrschte milde Stille. Die Bilder waren schneeüberkrustet, die Farben verlöscht, die Gesichter kaum kenntlich. Nur die Sichel der heiligen Notburga blinkte oben im stumpfen Dämmerlicht.
Maria hüllte die alten Glastafeln in die geerbten Gewänder und steckte sie zurück in den Rucksack. Mit steifen Fingern verstaute sie auch die Laterne.
Die Welt war wieder hell geworden und mit neuer Zuversicht stapfte Maria über das tiefverschneite Joch. Die Glastafeln mit ihren neuen Schutzheiligen waren jetzt ihr wertvollster Besitz.