Waldwinter

Eine Geschichte von Vinzenz Jerabek

Dem Thermometer ergings wie dem englischen Pfund: es sank täglich tiefer. Im Straßenbahnwagen, mit dem ich nach Neuwaldegg fuhr, klirrten die gefrorenen Fensterscheiben, und der Tag umspann die Erde mit lichtgrauer Hülle.

Ich hatte den Wagen verlassen und wanderte dem Wald zu, Die Lindenalle im Schwarzenbergpark war wie von weißer Watte angeflogen, der Schnee knirschte unterm Fuß, und die beiden barocken Obelisken, die noch vom Schöpfer des Parkes, dem Grafen Moritz Lascy, herrühren, hatten weiße Zipfelmützen. Weiße Woche in der Natur! Im Talgrund standen die Villen in dichte Schneepelze gehüllt, glitzerte der Eispanzer des gefrorenen Baches, und oben auf dem Kamm des Heuberges lag die Sonne wie eine feurige Kugel.

Beim ehemaligen Linienamtsgebäude gabelt sich die Straße. Ich schlug die Richtung Hütteldorf ein. Die Straße lief in schönen Windungen durch den Wald, der dicht verschneit und feierlich still war. Weiß verhüllt war der Straßengraben, und die welken Gräser und Sträucher an seinen Rändern trugen die schweren Wimpern des Rauhreifs.

Jede Baumkrone, jeder Stamm, jedes Ästchen war mit Eiskristallen besetzt. Als die Sonne mit ihren Strahlenfingern darüber hintastete, ergab das ein Flimmern und Glitzern von seltenem Liebreiz. Krähen zogen durch die Höhe, hunderte dieses schwarzen Gelichters. Schwerfällig ließ sich eine davon auf einen Ast nieder, hing wie ein Klecks im weißen Rahmen und wiegte sich, dass der Silberstaub herabrieselte.

Ein Holzfuhrwerk knarrte vorüber, die Pferde dampften und der Kutscher schimpfte. Nach einer Weile ward es wieder ruhig und das vertriebene Schweigen geisterte weiter durch die eisige Einsamkeit. Bläuliche Schatten lagen auf dem reinen Linnen, das den Waldboden bedeckte, Hasenfährten und zierliche Vogeltritte liefen darüber hin.

Ein Skifräulein stelzte aus dem Gehölz heraus. Blau waren seine Hosen, rot das Näschen, so rot wie ein reifes Paradeisäpfelchen. Das liebe Kind sah aus, als hätte es sich wie ein lustigen Hündlein im Schnee „herumgekugelt“. Jetzt strebte es dem Schottenhof zu, einer gastlichen Stätte, um dort aufzutauen.

Geruhsam und einladend liegt der „Schottenhof“ an der weißen Straße. Dieses einsame Haus im Wald trägt auf seinem Giebel die Jahreszahl 1841, macht also im kommenden Jahr den „Hunderter“ voll. Rechts am Gartenzaun die stattliche „Taferleiche“ mag ein junger Baum gewesen sein, als das Haus erbaut wurde. Wie hat die Welt damals ausgesehen, und wie wird sie aussehen, wenn eine der Eichen aus dem angrenzenden Jungwald die Größe der Taferleiche erlangt haben wird?

Mir fiel ein Erlebnis aus dem Weltkrieg ein. Hier beim Schottenhof ist es gewesen, einige Tage bevor wir ins Feld zogen, dass uns ein blutjunger Fähnrich im Kriegshandwerk unterrichtete: „Angenommen, der Feind setzt sich von der Sophienalpe aus gegen uns in Bewegung, was hätte da also zu geschehen?" Ein etwas blaunasiger Einspänner aus Ottakring, der den herzigen Namen „Wickerl“ führte, war mit seinem Kriegsplan gleich fertig: „Von der Sophienalm bis daher braucht der Feind a guate halbe Stund. Da kaufn ma da drin im Wirtshaus noch gschwind a „Halberl“, und nacha gehn ma's an!“

Mit dieser denkbar einfachen Lösung war der Fähnrich nicht zufrieden, und er hat die „Annahme“ auf strategische Weise gelöst. Zwei Wochen später haben wir den achtzehnjährigen Fähnrich in einem düsteren Forst in Wolhynien begraben. ...

Ich ging über den zugefrorenen Haltberbach zu den zwei „Knödlhütten“, aufs beste bekannte Wiener-Wald-Wirtshäuser, in deren Nähe sich die Jugend mit Rodeln vergnügte. Auch das ehrwürdige Alter tat mit. Tags vorher hatte ich in der Zeitung gelesen, eine sechzigjährige Rodlerin habe sich den Fuß gebrochen, und ich glaubte, bei der Altersangabe wäre ein Druckfehler gemacht worden. Ein kleines Mäderl befreite mich von meinem Irrtum. Als nämlich eine Rodlerin den Hang herabgesaust kam und vor dem Mäderl hielt, da rief dieses höchst energisch der Rodlerin zu: „Aber hörst, Größmuatta, jetzt bist gfahrn gnua! Jetzt laß mi a wieder amal rodeln!“

Das wundervolle Winterbild lässt alte Tage laut werden; man besinnt sich auf Zeiten, da man auf selbstgezimmerten Schlitten, „Brettlhupfer“ genannt, durchs pulvrige Weiß die Steilhänge herabgefahren ist.

Durch eine Siedlung kam ich nach Mariabrunn. Es krähten die hier heimatberechtigten Hähne, es bellten die Hunde, und die vom einstigen Wald  übriggebliebenen Bäume standen wesenlos und wie vom Starrkrampf befallen. Auf der Uhr der Mariabrunner Kirche schlug es die Stunde. Das klang so beruhigend und leidenschaftslos, als würde diese Uhr nur Glücklichen schlagen. Die Sonne hin wie eine verglimmende Leuchte im Dunst, der aus dem Tiergarten zur Höhe stieg, und verabschiedete sich von der Landschaft, die still und ergeben den Abend erwartete. Die Berge ringsherum waren wie ein Schutzwall aufgerichtet, damit kein Laut in diese Abgeschiedenheit dringe und alle Wirrnis und allen Lärm der Welt fernhalte.

Dann war von der Sonne nur noch ein roter Schein hinter einem der Tiergartenberge zu sehen, aus den Waldtälern kam das Dunkel gekrochen, lautlos hatte sich der Tag entfernt. Ich stand nun auf der belebten Straße und wanderte der Stadt zu.

Quellen:
Volks-Zeitung vom 12. Februar 1940, Seite 4

Eingestellt von hojos
Im Dezember 2023