Eine Neujahrsnacht der Kaiserin Maria Theresia

Von Johann Nepomuk Vogl

Johann Nepomuk Vogl (*1802, † 1866), war ein Wiener Beamter mit einer nahezu unerreichten literarischen Produktivität, darunter – oftmals vertonte – Gedichte und Balladen, aber auch Novellen und Essays. Außerdem war er der Herausgeber von Journalen und Almanachen wie dem „Österreichischen Wunderhorn“ und dem „Österreichischen Volkskalender“. In allen Volkskalendern, Schulbüchern und Gedichtsammlungen seiner Zeit waren seine Lieder zu finden, und es gab keinen Gesangverein in Österreich und Deutschland, der nicht ein paar Balladen und Lieder Vogls in seinem Repertoire hatte. Manches seiner Werke wurde als den besten gleichwertig bezeichnet, anderes vernichtend kritisiert.

Einige im vorgenannten „Volkskalender“ Vogls veröffentlichte eigene Werke werden zu seinen besten Arbeiten gezählt, darunter auch die Prosaarbeiten „Eine Neujahrsnacht der Kaiserin Maria Theresia“ und „Maria Theresia und der Wirth zum Wolf in der Au“. Sie sind auch in der 1865 – also knapp vor seinem Tod – erschienenen Sammlung „Aus dem alten Wien“ enthalten.

Eine umfangreiche Biografie Johann Nepomuk Vogls im „Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich“ erwähnt zu dessen Lebensende 1866 einen Sommeraufenthalt in Ober St. Veit nächst Wien. Dies mag auch im Zusammenhang mit seiner Freundschaft zu Ludwig Bowitsch stehen, der seinen Ruhestand in Ober St. Veit verbrachte.

Ein Wahlspruch Vogls passt wohl in alle Zeiten:

In alles Unvermeidliche
Gib dich geduldig d’rein,
Sonst steigert ins Unleidliche
Sich dir des Lebens Pein“.

Die nun folgende Beschreibung der Neujahrsnacht Maria Theresias habe ich ungekürzt übertragen und nur die Rechtschreibung modernisiert. Das Resultat mag in der heutigen Zeit nur schwer lesbar sein, zumal dem Dichter schon zu Lebzeiten überbordende Sentimentalität und eine schwülstige Sprache beim besingen großartiger Taten vorgeworfen wurde. Dennoch ist es meines Erachtens ein Zeitfenster mit interessanten Einblicken in die letzten Stunden des Jahres 1775, die in der Anstrengung Joseph von Sonnenfels' gipfeln, Maria Theresia zu ihren Zeilen wider die Folter zu bewegen. Der Verfasser führt in seinem Vorwort an, dass er seine Stoffe aus zahlreichen zum Teil seltenen Quellen und aus mündlicher Überlieferung erfahrener und glaubwürdiger Persönlichkeiten des alten Wien geschöpft und sich „absichtlich keiner Unwahrheit oder Geschichtsverfälschung schuldig gemacht“ hat.

Noch ein Hinweis: Die im Buch enthaltenen Fußnoten des Autors und Anmerkungen aus heutiger Recherche sind in Klammer nächst der betreffenden Stelle hinzugefügt.


In dem Vorzimmer, welches zu dem Arbeitskabinett der Kaiserin Maria Theresia führte, waren die beiden Wachskerzen auf dem mit grünem Tuch belegten Tisch des Türhüters tief herabgeronnen. Nur kärglich beleuchteten sie die hohe, düstere und mit dunkelfarbigen Ledertapeten verzierte Räumlichkeit, in der ein langer hagerer Mann im schwarzen Rock, mit weißem Halstuch und Spitzenmanschetten, eine große Perücke auf dem Kopf, mit dem Ausdruck des Unmutes im Gesicht, unruhig auf und niederschritt. Es war der kaiserliche Hoftürhüter, der den Dienst hatte, Namens Andreas Heß, welcher schon lange vergeblich auf seine durchlauchtigste Herrin wartete.

Sie war abends mit ihrer Kammerfrau Charlotte von Hieronymus nach St. Stefan in den Segen und von da zu den Kapuzinern auf den Mehlmarkt (heute Neuer Markt) gefahren, allwo sie in der von ihr im Jahre 1748 neu hergestellten Kaisergruft am Sarg ihres unvergesslichen Gemahls die letzten Tagesstunden des Jahres zubringen wollte. Die Tagesstunden waren aber längst vorüber und hatten bereits den Stunden der Nacht Platz gemacht, denn die Pendeluhr im Türhüterzimmer zeigte bereits auf ein Viertel über Sieben, und die Kaiserin war noch immer nicht zurückgekommen.

Doppelsarkophag für Maria Theresia und Franz I. in der Kapuzinergruft. Fotografiert am 26. Jänner 2013 © Archiv 1133.at
<p><b>Doppelsarkophag für Maria Theresia und Franz I. in der Kapuzinergruft</b></p><p>Fotografiert am 26. Jänner 2013</p><p><i>&copy; Archiv 1133.at</i></p>

Jetzt erscholl ein Geräusch in der Antikamera (Vorzimmer), der Türhüter putzte die Lichter, stäubte den Spaniol (Schnupftabak) vom Jabot (Spitzen- oder Seidenrüsche am Kragen) und stellte sich in Positur, aber er hatte sich getäuscht, denn herein trat der alte Kammerheizer (Namens Stockl, ein Tiroler und Günstling der Kaiserin, durch welchen sie öfters kleine Geldgeschenke verteilen ließ) in seinem hechtgrauen gelbbordierten Rock, das grüne Samtkäppchen in der Hand, um nachzusehen, ob das Kabinett Ihrer Majestät gehörig erwärmt sei.

„Sakera! Sakera!“ sagte er, „das ist ein Malifizwinter! Das schneibt und schtöbert, dass man kein Aug’ aufmachen kann, und lasst’s Stöbern nach, so blast wieder der Wind, dass’s einem die Seel’ beutelt. Da ischt erscht s’ G’schwisterkind von meiner Lisa, Gott trest’s, vom Tabor ’rein kommen, die hat den Kammermenschern (Kammerjungfern und Garderobiéres) erzählt, dass dort ein Kästenbaum vor Froscht zersprungen ischt, der funfzehn Zoll dick war, Herr Andresch, fünfzehn Zoll, und den’s bis auf’n Kern auscheinander g’rissen hat.“

„Es ist ein Winter, wie man deren noch wenige erlebt hat,“ sagte der Türhüter.

„Und Ihre Majestät ischt noch alleweil nit von den Kapuzinern z’ruckkommen?“ fragte der Heizer.

„Noch immer nicht“, entgegnete der Türhüter. “Ich müsst’ wahrhaftig besorgt werden, wenn ich nicht wüsst’, wie schwer sich die durchlauchtigste Monarchin bei jedesmaligem Besuch in der Kapuzinergruft von dem Sarg Seiner Majestät des Kaisers trennt.“

„Sakera! Sakera!“ sagte der Heizer, „dass doch Ihre Majeschtät noch allweil solch’ einer Maulankolei nachhängen tut! Als mir vor funfzehn Jahren meine Lisa, Gott trest’s, g’storben ischt, und ich den Dienscht verlassen und nach Tirol z’ruck wollt, um ein Einsiedler auf’n Kofl z’werd’n, da hat Ihre Majestät zu mir g’sagt: Stockl, hat sie g’sagt, du bischt ein schlechter Christ, weilscht nit in Demut hinnimmscht, was der Herr dir auferlegen tut, hat sie g’sagt, und jetzt macht’s sie’s noch damischer. Sakera! Sakera! Hat’s nicht gar zu Spruck ’ne Kloschterfrau werden woll’n?“

„Rede der Stockl nicht so despektierlich, der Stockl schwatzt ja, als ob er sich im goldenen ABC (eine berühmte Likörboutique in der Rauhensteingasse) einen Haarbeutel (redensartlich ein leichter Rausch) geholt hätte. Er täte besser, nach seinem Ofen zu sehen, als sich in solche Expektorationen einzulassen.“

„Sei der Herr Andresch nit so harb“, versetzte Stockl, „es war ja nit so bös’ vermeint gewesen. Ich denk mir nur, den Rat, den sie mir geb’n hat, den könnt’ sie sich jetzt selber geb’n, denk’ ich mir. Was aberscht den Kamin betrifft, so könnt’ ich’s ganz gut bleib’n lassen, nachzuschau’n, denn es darf ja, nach dem Befehl Ihrer Majeschtät, fast gar nit eing’heizt werd’n, und wan’s auch gescheh’n tut, so reißt Ihre Majeschtät, sobald’s in’s Kaminet ’neintritt, g’wiss wieder’s Fenschter in allen Angeln auf.“

„Schon halb Acht“, sagte der Türsteher, ohne auf Stockl weiter zu achten, indem er eine goldenen Uhr aus der einen und zugleich eine zweite aus der anderen Hosentasche zog, und sie miteinander verglich.

„So lange sind Ihre Majestät noch nie in der Kaisergruft geblieben.“ Und wieder ging er unruhig im Gemach auf und nieder, während der Alte nach seinem Kamin sah.

Nicht lange darauf trat rasch aber geräuschlos ein Page in das Zimmer.

„Signor Portinicro!“
„Was beliebt!“
„Sa Majesté ’schon retour?“
„Ihre Majestät sind noch nicht zurück.“
„Trés desagreable!“

„Weshalb!“ fragte der Türsteher, „ist noch jemand in der Kammer?“

„Signor Koch (damaliger Geheimschreiber der Kaiserin) arbeiten in seiner Kanzelaria und möchten gern wissen, ob ihn sa Majesté heute noch würden rufen lassen.“

„Ja, wer kann darüber Auskunft geben“ sagte achselzuckend der Türhüter. „Nach aller Wahrscheinlichkeit aber wird Ihre Majestät nach höchst Ihrer Zurückkunft sich von dem Herrn Kabinetssecretär noch die wichtigsten der eingelangten Aktenstücke vorlesen lassen wollen.“

„Das wird dem Signor Kochio überaus fatal sein“ erwiderte der Page, „denn wie der Herr Kammerfourier (herrschaftlicher Quartiermacher) von Edlersberg von der Extra-Kammerfrau erfahren, ist Signor Secretario bei der Frau Hofstabelmeisterin auf eine Silvester-Fete mit Sommerspiel und Quime geladen. Es sollen auch mehrer von unseren Damigellas dazukommen, auch die Frau von Lederer und die Cantatrice Balbini.“

„Haben Ihre königlichen Hoheiten (die österreichischen Prinzen und Prinzessinnen am königlichen Hof) schon Ihre Kollation (einfaches Abendessen) eingenommen?“ unterbrach ihn Andreas.

„Sie sind bereits in Ihre Appartements retourniert, da sa Majesté die Ordre zu erlassen geruhten, dass heute nicht en famile soupiert würde. „Entre autre, eine Novität“, fuhr der Page fort, „in Paris hat die Gräfin von Genlis einen Orden der Ausdauer gestiftet. Einen Orden der Ausdauer! Corpo di bacco! Bei dem könnten unsere Hofdamen excellieren, denn während des zweistündigen regungslosen Stehens bei der Cour, die Lenden lahm werden und die Beine einschlafen, ohne dass sie sich’s merken lassen dürfen.“

„St.! St.! Junger Herr!“ sagte der Türhüter mit dem Finger drohend, „wenn das der Herr Pagen-Hofmeister hört!“

„A pah“, erwiderte der Page, „von hier bis zur Stallburg ist ein weiter Weg. Wie es heißt“, fuhr der Geschwätzige fort, „war das Comité des Vereins in großem Embarras, wen es zu Großmeister wählen sollte. Da sagte der Marquis von Coigny: Der Graf von Artois verliert alle Tage enorme Summen beim Pferderennen und parirt doch noch immer frisch darauf los. Es gibt keinen würdigeren Großmeister für die Ausdauer, als die königliche Hoheit. Apropos, wissen Signor Andrea schon von dem Affront, den der Theaterdirector Affligio unserem Professor Sonnenfels gespielt?“

„Ich habe nichts davon gehört.“

„Aber Signor Andrea wissen, dass in unseren officina d’arti das Porträt di questo famoso letterato zur Schau gestellt ist?“

„Das habe ich gesehen“, versetzte Andreas, „dem Kupferstecher Herrn Jacob Schmutzer (Jakob Schmutzer, geb. 1733, gest. 1811, hatte es vom Hirtenknaben bis zum Direktor der k. k. Akademie in Wien gebracht.) wurde die allerhöchste Gnade zuteil, ein Exemplar des Conterfais Ihrer Majestät der Kaiserin überreichen zu dürfen.“

„Nun hat der schelmische Affligio“, fuhr der Page fort, „aus Revanche für die Kritiken des Professors, die freilich nicht in Zucker gebacken waren, den Bernardon Kurz, in contrasto, ebenfalls in Kupfer stechen lassen, und heute Morgens in dem Christoforischen Laden (Christofoi, damals Buch- und Kunsthändler auf dem Kohlmarkt zum grünen Anker) zur Schau gestellt, so dass nun beide Porträts, das des Professors und das des Bernardon Kurz, einander anblicken. Ha! Ha! Ognuno ride die quest’ idea!“

„Wie lange“, sagte der Türhüter entrüstet, „wird dieses Komödiantenpack noch die Frechheit haben, einen Mann zu beschimpfen, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, durch Wort und Schrift für das Beste des Vaterlandes zu wirken, und welchem selbst Ihre Majestät, unsere glorreiche Kaiserin, Ihre allerhöchste Gunst zu schenken geruhen?“

In diesem Moment erscholl abermals ein Geräusch in der Antikamera, Türen wurden aufgeschlagen, Schritte dröhnten, Gewänder rauschten. Nun war es ernst.

Der Page sprang zur Eingangstüre. Die Flügel derselben flogen geräuschvoll auf, und herein trat in ihrer gewöhnlichen hohen und majestätischen Haltung, in ihren Trauerkleidern, welche sie seit dem Tode Franz I. nicht wieder abgelegt hat, die Florkappe auf dem schlicht zurückgestrichenen und leicht gepuderten Haar, die Kaiserin. Die tiefe Traurigkeit in den edlen, fast männlichen Zügen, zeigte von den schmerzlichen Empfindungen, denen sich ihr Herz an der Stätte des Todes hingegeben hatte.

Der Kaiserin folgte, mit einer sogenannten „geschopften Haube“ auf dem Kopf und ein großes silberbeschlagenes Gebetbuch in der Hand, ihre Kammerfrau Charlotte v. Hieronymus (nach der bereits verstorbenen Gräfin Fuchs die von Maria Theresia bevorzugte Kammerfrau), welche jedoch mit einem gnädigen Wink der Hand verabschiedet wurde, worauf sie sich mit einer tiefen Kniebeugung zurückzog.

Maria Theresia rauschte in ihrer bauschichten Robe, an dem bis zur Erde gebückten Pagen vorüber und ging mit großen Schritten auf die Kabinettstüre zu, von welcher der Türhüter die samtene Portiére, welche diese verhüllte, zurückzog, worauf die Kaiserin das Kabinett betrat.

Kaum aber war die Portiére wieder hinter der Kaiserin herabgerollt, so flüsterte der Page zu dem Türhüter: Buon capo d’anno! und war aus dem Gemache entschwunden.

Dem alten Andreas war aber sichtlich ein Stein vom Herzen gefallen, denn die Falten auf seiner Stirn waren verschwunden, und um seinen Mund spielte wieder das alte gewohnte Lächeln. Behäbig eine Prise aus seiner silbernen Tabatiére nehmend, setzte er sich hierauf in seinen Lehnsessel, stülpte eine Doppelbrille auf die Nase und vertiefte sich in der „Wienerischen Diaria“ (gedruckt in der kaiserlichen Reichs- und Hofbuchdruckerei, zu finden im rothen Igel), so war der Name der dazumal in klein Quartformat und auf Löschpapier ausgegebenen Wiener Zeitung.

Er hatte noch nicht lange darin gelesen, als ein abermaliges Geräusch von außen erscholl, gleich darauf die Türflügel aufschnellten und der Hof- und Kammerjunker (Die Kammerjunker assistierten den Kammerherrn in ihren Diensten. Sie waren ohne Gehalt und wurde nur für kleine Dienstleistungen verwendet.) Freiherr Berulan von Hahnenritt, in goldgestickter Uniform, den Federhut unter dem Arm und ein versiegeltes Schreiben auf einem Goldteller tragend, mit altadeliger Gravität in das Zimmer trat und den Türhüter fragte: „Ist Ihre Majestät die durchlauchtigste Kaiserin und Königin noch gegenwärtig?“

„Die Majestät befinden sich in Ihrem Kabinett“, versetzte der Angeredete.

Da richtete sich derselbe mit behäbiger noblesse sein Toupé und die beiden großen Haarrollen an den Schläfen, so wie die Porten seiner Brocat-Weste zurecht, und sprach sodann: „Avisiere Er sogleich Höchstdieselbe, dass der Reichsfrei-Erb-Lehn-Gerichts- und Bannerherr, Berulan von Hahnenritt, um die allerhöchste Faveur ansuche, Allerhöchst deroselben eine eben eingelangte Depesche in unterthänigster Devotion zu Füßen legen zu dürfen.“

„Euer hochfreiherrlichen Gnaden ...“ begann der Türhüter.

„Hoch- und reichsfreiherrlich!“ verbesserte der Hochedle.

„Euer Hoch- und reichsfreiherrlichen Gnaden zu Service“, versetzte der Obige, indem er sich gebührend verneigte und darauf in das Kabinett enteilte, aus dem er jedoch sogleich wiederkehrte, und, mit einer abermaligen pflichtschuldigen Reverenz gegen den Hofjunker, den Vorhang zurückzog.

Der Reichsfrei-Erb-Lehn-Gerichts- und Bannerherr trat hierauf mit gehaltvollen und gemessenen Schritt eines gewiegten Hofmannes in das Kabinett, aber nur wenige Minuten verflossen, als unter der, von dem Türhüter gelüfteten Portiére, die Rückseite des Hochwohlundedelgeborenen mit den goldverbrämten Rockschößen wieder sichtbar wurde, sich jedoch in solch einer Positur darstellte, dass man vermeinen konnte, der edle Herr beabsichtigte so eben in eine venetianische Gondel zu steigen.

Kaum aber war der Vorhang wieder herabgefallen, so war auch wieder das imponierende Avers des Kammerjunkers zu erblicken, welches in dem Überbleibsel eines officiösen Grinsens in dem eben nicht sehr ausdrucksvollen Gesicht den echten Hofkavallier und in der leeren Goldplatte die Erfüllung seiner schwierigen Sendung erkenne ließ.

Wieder hochaufgerichtet, mittelst einiger Anstrengung des hoch- und reichsfreiherrlichen Rückgrates und des inneren Selbstbewusstseins seiner Würde, nickte der Edle mit rührender Herablassung dem Hofofficianten zu und entfernte sich sodann mit jenem Anstande, mit welchem er eingetreten war, worauf der alte Andreas, das gewohnte Lächeln um den Mund, eine Prise nahm und sich wieder auf seinen Posten verfügte.

Nicht lange darauf klingelte es im Kabinett der Kaiserin.

Der Türhüter beseitigte sein Augenglas und flog hinein.

Die Kaiserin saß in ihrem breiten samtenen Flügelstuhl bei ihrem mit Schreibmaterialien und Schriften aller Art überhäuften Arbeitstisch, auf welchem zwei silberne Armleuchter standen, deren Lichter das Gemach erhellten, und Schrieb.

Der Türhüter blieb, der Befehle gewärtig, an der Türe stehen.

Als Maria Theresia das Schreiben beendet, faltete sie dasselbe und versiegelte es. Darauf reichte sie es dem Türhüter und sagte: „Dem Staats- und Conferenzminister Fürsten von Kaunitz.“

Andreas verbeugte sich und eilte in die Antikamera, allwo er das Schreiben einem Kammerhusaren übergab, welcher sogleich klirrenden Schrittes das Gemach verließ, während der Türhüter wieder zu seiner wienerischen Diaria zurückkehrte.

Eine längere Pause erfolgte.

Da klingelte es wieder in dem Kabinett.

Der Türhüter beseitigte abermals Augenglas und Diaria und eilte in dasselbe.

„Ist Pater Ignatius von den Kapuzinern in der Antichambre?“ fragte die Kaiserin.

„Ich werde sogleich nachsehen, kaiserliche Majestät“, versetzte der Befragte und eilte in das Vorzimmer. Wirklich sah er den Pater bereits in einer Ecke der Antikamera lauern, und winkte ihm, bei der Kaiserin einzutreten.

Hastig rutschte dieser von der Bank herab und eilte mit weitausgreifenden Klosterschritten und unter schrecklichem Gepolter seiner hölzernen Sandalen nach dem Closet.

„Sachte! Sachte!“ flüsterte der erschrockene Türhüter dem Pater zu. „Hochwürden lärmen ja wie die leibhafte Klapperpost (So wurde der frühere Briefbote in Wien genannt, welcher, die Briefschaften in einem Felleisen, einem mit Eisen ummantelten Behältnis, die Straßen der Stadt durcheilte und seine Ankunft mit einer Klappe bemerkbar machte.).

Schon aber hatte der Barfüßer den Umhang erreicht und schlüpfte in das Kabinett. Die Kaiserin saß in ihrem Armstuhl und nickte freundlich dem eintretenden Pater zu, welcher sich demutsvoll vor ihr verneigte.

„Ich habe Ihn, nach meinem heutigen Grabbesuch, zu mir beschieden, Pater Ignatius“, sagte sie, „weil ich etwas Unaufschiebbares mit Ihm zu besprechen wünschte.“

„Befehlen Eure römisch-katholische Majestät (Am 30. September 1743 legte sich Maria Theresia mit Zustimmung des Papstes den alten Beinamen „apostolisch“ wieder bei.)  über dero unwürdigsten Diener“, sagte der Pater.

Maria Theresia bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich auf ein Tabouret (Hocker) niederzulassen, worauf sie fortfuhr: „Ich habe an dem heutigen Tag meiner Pflicht als Kaiserin, sowie als Witwe eines unvergesslichen Monarchen, Genüge geleistet, ich möchte nun auch ein Gleiches als Christin tun, und die letzten Stunden des scheidenden Jahres mit einem guten Werk beschließen.“

„Möge der seraphische Vater“, sagte hierauf der Mönch, „für dieses edle Vorhaben Eurer römisch-katholischen Majestät seine eifrigste Fürbitte im Himmel angedeihen lassen.“

„Um dieses mein Vorhaben in’s Werk zu setzen“, sprach Maria Theresia, „soll Er mir als ein Mann, der die Liebe zu Gott mit der Liebe zu den Menschen verbindet, hilfreiche Hand leisten. Sage er mir daher, kennt er irgend einen wahrhaft Bedürftigen, den er mir auf Treue und Glauben anempfehlen könnte?“

Der Vater dachte eine Zeitlang nach, während er die Holzkügelchen seines Rosenkranzes, den er am Gürtelstrick hängen hatte, durch die Finger gleiten ließ, dann sprach er:

„Vor ungefähr zwei Wochen, ich glaube es war am Tage des Beichtigers (Beichtvater) Eprulphus, als ich gerade beim Pater Portner saß, um mich an seinem Ofen zu wärmen, da unsere Zellen nicht zu heizen sind, klingelte ein fremder Mann an der Pforte, und bat um die sogenannte 'Kapuizinersuppe', welche bei uns ex gratia den Armen abgereicht wird.

„Er trug einen verbrauchten Roquelor (schwerer Wollmantel), hatte graugemengtes Haar und eine bleiche Gesichtsfarbe, aber eine Benehmungsweise, aus der man schließen konnte, dass er nicht zu den gewöhnlichen Garduisten (von gratuita mensa: freie Kost) gehöre und in besseren Verhältnissen gelebt habe müsse.“

„Dieses bestätigte sich auch, und was ich bei wiederholter Zusammenkunft mit ihm erfuhr, lässt mich glauben, dass dieser Mann der Allerhöchsten Gnade Eurer römisch-katholischen Majestät würdig sein dürfte.“

„Rede weiter!“

„Wie mir der gleich Hiob von allen verlassene unglückliche Mann erzählte, bekleidete er früher das Amt eines Zollbeamten in Schlesien und befand sich in wohlhabenden Umständen, als seine Vaterlandsliebe die Quelle seines Unglücks werden sollte.“

„Seine Vaterlandsliebe?“ fragte Theresia.

„Non aliter“, erwiderte Pater Ignatius. „Vorzüglich war es zur Zeit der letzten Kriegshändel, in welchen er sich durch seinen Diensteifer und die Anhänglichkeit an das Haus Österreich, dem der Allmächtige immer seinen Segen verleihen möge, wiederholt auszeichnete.“

„Dieses aber sollte er dem ketzerischen Präfektus oder Tribunus teuer bezahlen, denn kaum hatte die Hand der sündhaften Habgierde sich des Ortes bemächtigt, so wurde sein Vermögen eingezogen, er selbst seiner Stelle entsetzt, von Haus und Hof verjagt, und mit seinem Weib und – dreizehn Kindern dem äußersten Mangel preisgegeben.“

„Schrecklich!“ unterbrach ihn Maria Theresia.

„Sich glücklich preisend, mit den Seinen noch größeren Verfolgungen durch die Flucht entronnen zu sein, irrte er nun, wie David in der Wüste Engaddin, von Provinz zu Provinz, bis er endlich, nachdem seine zwei jüngsten Kinder dem Elend erlagen, die Residenz erreichte. Nun gedachte er in Beherzigung des Sprichwortes Per aspera ad astra, sein Kanaan gefunden zu haben, aber – o heiliger Franz von Sales! – wie sehr hatte er sich getäuscht! Vergebens schrieb er Bittschriften auf Bittschriften und lief von Pontius zu Pilatus, wohin er sich wendete, sah er sich mit nichtssagenden Vertröstungen hinausgezogen oder spröde abgewiesen. Solcherweise vergingen Jahre um Jahre, während welchen der Unglückliche, im tiefstem Elend wie Daniel in der Löwengrube, vergebens nach Erlösung schmachtete, und ohne der Munifizens Seiner Exzellenz des Herrn General Laudon, welche um die Meriten weiß, die jener Mann sich um die österreichische Armada erworben, würde er und die Seinen bereits ...“

„Haltet ein!“ rief Maria Theresia mit feuersprühenden Augen und flammenden Wangen. Niemand soll Wohltaten erteilen, die mir als Pflicht auferlegen sind!“

„Und wie ist der Name dies Unglücklichen?“ fragte sie hierauf.

„Er heißt Egehard Weber.“

„Egehard Weber?“ wiederholte Maria Theresia nachsinnend, dann rauschte sie vom Stuhl empor, und wühlte in den Schriften auf ihrem Tisch.

Plötzlich zog sie ein Aktenstück hervor, durchflog  es mit fiebernder Hast, und ließ es dann mit einem Ausruf des Schreckens auf den Tisch niedergleiten.

Darauf aber sank sie auf die Knie nieder, indem eine heiße Träne, eine Perle, die alle Perlen ihres Schmuckes übertraf, ihrem schönen Auge entquoll, und sie in die Worte ausbrach: „Gott im Himmel, nimm meinen inbrünstigsten Dank, dass Du dies verhindert!“ Voll Erstaunen und Bestürzung blickte der gute Pater Ignatius auf die Kaiserin, deren leidenschaftliches Benehmen er sich nicht zu enträtseln vermochte, doch hatte er nicht lange auf die Lösung des Rätsels zu warten.

Sobald sich Maria Theresia wieder gesammelt hatte, trat sie zu ihm und sprach: „Helfe er mir die Vorsehung preisen, welche mir eingab, Ihn heute noch zu mir zu bestellen. Ich war auf dem Punkt, im letzten Atemzug des Jahres eine himmelschreiende Ungerechtigkeit zu begehen, denn Egehard Weber und seine Familie sollten, auf eine mir vor wenigen Stunden zugekommene Eingabe, noch diese Nacht aufgehoben, und – als Vagabunden in das Zuchthaus gebracht werden.“

Voll Entsetzen schlug der Pater die Hände ineinander.

„Ich entlasse Ihn“, sagte Maria Theresia nach einer Weile, „um seinen Anempfohlenen zu sagen, dass er morgen von mir ein Bindband erhalten wird, das ihn über seine und der Seinigen Zukunft beruhigen soll.“

Hierauf verneigte sich der Kapuzinermönch, welcher vor übergroßer Rührung nicht zu sprechen vermochte, und – die Hände segnend über die Kaiserin breitend, das Kabinett verließ.

Maria Theresia aber lehnte sich in ihren Samtstuhl zurück, die gefalteten Hände im Schoße und blieb lange regungslos. Sie brauchte ebenfalls geraume Zeit, um sich von der tiefen Erschütterung, welche ihr Herz erfüllt hatte, zu erholen. Sie ahnte nicht, dass ihr in dieser Nacht noch eine größere Gemütsregung bevorstehen sollte.

Endlich erhob sie sich wieder und schellte dem Türhüter.

„Der Kabinettssekretär Koch!“

„Sogleich!“

Nicht lange darauf trat der Geforderte in das Arbeitskabinett und Maria Theresia beeilte sich, ihn von dem Vorgefallenen zu unterrichten, um mit ihm jenen edelmütigen Entschluss zur Ausführung zu bringen, den sie gefasst hatte, den unglücklichen Weber seinem bedauernswerten Schicksal zu entreißen.

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, seit der Türsteher den Sekretär in das Kabinett gelassen hatte, als dieser wieder, mit Akten unter’m Arm, aus demselben trat und sich entfernte.

Nach einer Weile öffnete Andreas die Portiére und spähte durch die Klinken der Türe, welche nur angelehnt waren, in das Kabinett, in welchem er die Kaiserin, in ihrem Samtstuhl sitzend und das Haupt auf beide Hände gestützt, erblickte.

Vorsichtig schlich er auf den Zehen auf seinen Sessel wieder zurück, nahm seine Lektüre zur Hand, und die klösterliche Stille, welche den Raum beherrschte, unterbrach nur noch der einförmige Schall, welcher der Pendel der Wanduhr hervorbrachte.

Überlassen wir Ihre Majestät den geheimen Gedanken und Betrachtungen und den Türhüter seiner zum zehntenmal durchgelesenen „Wienerischen Diaria“ und verfügen wir uns auf den in der unmittelbaren Nähe der Hofburg gelegenen Platz vor der Kaiserlichen Bibliothek, welcher früher Tummelplatzgeheißen, seit Kaiser Josef aber im Jahre 1769 die Mauer, welche diesen Platz verunstaltete und der ganzen Länge nach von der Augustinerkirche bis zur Winterreitbahn absperrte, niederreißen ließ, Josephsplatz genannt wurde. Das imposante Monument von Zauner, welches gegenwärtig diesen Platz ziert und von welchem man irrigerweise glaubte, dass es demselben den Namen gegeben habe, wurde erst von dem Enkel dieses großen Monarchen, dem letzten deutschen Kaiser Franz II. im Jahr 1807 errichtet (Petzl, Chronik von Wien).

Die letzte Nacht des Jahres 1775 lag mit ihren Rabenfittichen über die Kaiserstadt gebreitet, auf welche, obgleich dieselbe schon in dichten Schnee gehüllt, noch immer massenhafte Schneeflocken aus dem gruftschwarzen Himmelgewölbe niederwirbelten.

Die wenigen mit mächtigen Schneehauben bedeckten Straßenlaternen, welche den eben erwähnten Platz beleuchteten oder vielmehr beleuchten sollten, streuten bloß einen kargen, unsicheren Schimmer um sich, welcher geeignet war, die Finsternis des nächtigen Raumes nur noch bemerkbarer zu machen.

Überdies herrschte noch solch eine tiefe Stille, dass man die Flocken niederfallen hören konnte, so geräuschlos sie sich auch ihren zartgefiederten Vorgängerinnen beigesellten. Nur je zuweilen knisterte es in der Schneemasse, welcher den Flächenraum bedeckte, über den sodann ein schwarzer, undeutlich gestalteter Gegenstand dahinhuschte. Jetzt ertönte fernes Schellengeklingel und Peitschengeknalle. Immer näher und näher kam es vom Michaelerplatz. Jetzt sauste ein Schlitten mit rasselndem Geklirre heran, folg wie vom Winde getragen über den Platz dahin, und der Schnee pfiff und knirschte unter seinen Kufen, während die rote Glut, welche die funkensprühende Pechfackel des Läufers verbreitete, an den Straßenhäusern dahinflog, auf einen Augenblick die Steinfiguren der Minerva, des Atlas und des Tellus auf der Kuppel des Bibliothekgebäudes sichtbar werden ließ und zugleich das Schmettern der langgeschweiften Peitsche, gleich Pistolenschüssen, die Luft zerriss.

Nun bog das dahinsausende Gefährt bei der Augustinerkirche nach dem Mehlmarkt ein. Schwächer und schwächer erklang das Geklingel der Schellendecken, bis es endlich ganz verstummte. Der Schlitten beförderte ohne Zweifel ein Rudel lebensfroher Cavaliere zu einem adeligen „Divertissement“ auf der Mehlgrube (In diesem Kasino auf der Mehlgrube wurden zu jeder Zeit nur adelige Unterhaltungen gegeben, von denen jeder Bürgerliche ausgeschlossen war. Gräffer: Wiener Memorabilien.  – Die Mehlgrube war das Haus Konskriptionsnummer 1045, heute Neuer Markt 5 / Kärntner Straße 22, heute Hotel Ambassador).

Und abermals herrschte die alte, tote lautlose Grabesruhe über dem Josephsplatz, und die Figuren auf der Zinne waren wieder von der Nacht umhüllt. Mit einemmale wurde ein Lichtreflex an dem der Hofburg entgegengesetzten Ende des Gemäuers wahrnehmbar, der sich immer mehr vergrößerte und dessen Schein immer greller wurde, bis endlich eine Fackel zum Vorschein kam, welche ein Laufbursche trug, dem zwei Männer mit einer Sänfte folgten. Diese Männer, welche mit roten Röcken bekleidet waren und niedere Kappen mit bunten Federbüschen auf den Köpfen trugen, stapften rüstig durch die Schneeschollen, die Richtung nach der kaiserlichen Burg nehmend.

An dem durch zwei flackernde Laternen beleuchteten Bogengewölbe, unter welchem eine Stadtquardia, bis an die Zähne in ihren Mantel gehüllt, mit ihrer Partisane auf und nieder ging, angelangt, löschte der Fackelträger seine Leuchte an einem Löschstein, die Portechaisenträger aber gingen an der Schildwache, die einen gleichgiltigen Blick auf den Tragkasten warf, vorüber, schritten durch das Bogengewölbe und dann über den schmalen Hofraum, in welchem die Kehrseite der Burgkapelle mit ihren gotischen Ecktürmchen und Spitzbogen sichtbar ist.

Von hier nahmen sie ihren Weg durch das zweite Bogengewölbe hindurch nach dem Schweizerhof (Der Schweizerhof erhielt seinen Namen von der Schweizerwache, welche Maria Theresia an die Stelle der Trabantengarde einsetzte, und die unter dem alten Burgportal ihre Wachstube hatte, welche jetzt von der Hofgensdarmerie eingenommen wird.). Hier setzten sie ihre Last an dem Fuß der freien Stiege nieder, und zogen die Tragestanden aus den Kurben. Die Türe der Portechaise öffnete sich und aus derselben trat ein kleiner Herr, in einen langen Mantel mit kurzen Kragen gehüllt. Er mochte einige und vierzig Jahre alt sein und hatte, was man bei dem Flackerscheine der Öllampen ausnehmen konnte, ein einnehmendes aber den israelitischen Ursprung verratendes Gesicht, ein geistvolles Auge, eine hohe Stirn, eine edelgebogene Nase, er war hochauffrisiert und stark gepudert. Als sich beim Heraustreten der Mantel lüftete, wurde ein schwarzes Staatskleid, Chapeau-bas, unter dem Arme, und ein Degen mit brillantiertem Stahlgriff zur Linken sichtbar.

Ohne Verweilen stieg der kleine Herr die mit einem durchbrochenen Steingeländer versehene Treppe hinauf, ging über den durch Wandlampen hellerleuchteten Vorplatz, welchen hier das Stiegenhaus bildete, stieg sodann eine zweite schmälere, ebenfalls beleuchtete Stiege, eine sogenannte Escalier de Service bis zur Bel-Etage hinan, und schritt durch die weitläufigen von Fensternischen und kleinen Stiegenabteilungen unterbrochenen Gänge bis er in den sogenannten „Fräuleingang“ gelangte.

Aus dem sicheren Schritt und er Ungeniertheit, mit welcher er die Flügeltüren öffnete, war zu schließen, dass er kein Fremdling in diesen Räumen sei. Auch schienen ihn die rotröckigen Areierengarden, welche im ersten Gemache auf ihre blinkenden Hellebarden gelehnt, Wache hielten, sowie die mit schwarzen lichtgelbgallonierten Livréen bekleideten Zimmerlakaien in den anstoßenden Gemächern wohl zu kennen, wie man aus dem Respekt, den ihre Haltung gegen ihn annahm, folgern konnte.

Der kleine Herr im Staatskleide mit dem Galanteriedegen war aber so sehr in Gedanken vertieft, dass er die Anwesenden gar nicht zu bemerken schien. Mechanisch beseitigte er in einem der letzten Gemächer den Flügelmantel und setzte sodann, die eine Hand am Degengriff, in der anderen den Chapeaus-bas haltend und den Kopf auf die Brust gesenkt, seine Zimmerwanderung wieder fort.

Nun gelangte er in das Gemach, in welchem der Türhüter, dessen Bekanntschaft der Leser bereits gemacht hat, hinter seinem Tische saß und noch immer in seiner „Wienerischen Diaria“ las. Auf das Geräusch, welches die knarrenden Tritte des Eintretenden auf den Parquetten verursachten, erhob dieser, über den späten Besuch verwundert, den Kopf, kaum aber erblickte er den kleinen Herrn im Staatskleide, so nahm er hastig die Brille von der Nase und machte ihm eine respektvolle Verbeugung.

„Sind Ihre Majestät die Kaiserin noch in Ihrem Apartement?“ fragte der Letztere.

„Unsere durchlauchtigste Frau befindet sich noch in Ihrem Arbeitskabinett“, war die Antwort.

„Schon seit lange?“

„Beiläufig etwas über eine Stunde; Höchstdieselben wohnten früher im Oratorium zu St. Stephan dem Segen bei und brachten sodann die letzten Abendstunden des Jahres am Sarge Seiner Majestät des Höchstseligen Kaisers Franz I. zu.“

„Nachher, in Ihrem Arbeitszimmer angekommen, erteilten höchstdieselben eine kurze Audienz dem Pater Ignatius von den Kapuzinern und arbeiteten sodann noch einige Zeit mit Dero Herrn Kabinetssekretär Koch, den Dieselben eben bereits wieder entließen.“

„Seit dieser Zeit sitzt Ihre Majestät in Gedanken vertieft, das Haupt auf der Hand und blättert zuweilen in den Aktenstücken, welche Höchstderoselben zur Durchsicht unterbreitet wurden.“

„Ihre Majestät“, versetzte der kleine Mann, „ist in der Tat Semiramis, Zenobia und Artemisia in einer Person. Nun mein lieber Herr Heß, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, fragt doch, ob ich so glücklich sein könnte, Ihre Majestät zu sprechen.“

„So spät noch?“ fragte der Türhüter mit einiger Verwunderung.

„Es ist wohl eine nicht gewöhnliche Stunde“, sagte der kleine Herr, „aber auch nicht eine gewöhnliche Sache, welche ich Höchstderoselben mitzuteilen habe.“

„Ich werde Ihre Majestät sogleich hievon benachrichtigen. Belieben der hochachtbare und hochgelehrte Herr Professor sich indessen bequem zu machen.“ Nach diesen Worten verschwand der Türhüter hinter der Portiére. Der kleine Mann aber, welcher der Audienz bei der großen Kaiserin in so ungewöhnlicher Stunde noch entgegenharrt, ist Niemand Anderer, als der mutige Verfechter des Rechtes und der Wahrheit, der eifrige Förderer der Sitte und des Geschmackes, der für das Wohl der Menschheit kühn in die Schranken tretende Professor Josef von Sonnenfels, und ich glaube, dass es nicht am unpassenden Orte sei, dem Leser eine flüchtige Lebensskizze dieses um Österreich so hoch verdienten Mannes bis zu dem Zeitpunkt, in welchem derselbe in dieser Erzählung handelnd eingreift, mitzuteilen.

Josef von Sonnenfels war im Jahre 1733 (Der Tag der Geburt ist in keiner der bis jetzt erschienen Biografien Sonnenfels angegeben.) in Nikolsburg in Mähren, einem am Fuße der Pollauerberge gelegenen Grenzstädtchen geboren, welches außer ihm selbst nichts Merkwürdiges aufzuweisen hat, als ein Felsenschloss des Fürsten Dietrichstein, und in dessen Keller ein Monstrum von einem Weinfass, das ein Küper aus Brünn Namens Specht im Jahre 1643 verfertigte (Franz Raffelsberger, geografisches Lexikon des niederöst. Kaiserstaates. Wien 1845).

Sein Vater, ein seines biederen Charakters und seiner Gelehrsamkeit wegen hochgeachteter Mann, bekannte sich zur mosaischen Lehre, trat aber später zur katholischen Religion über, wurde Dolmetsch der hebräischen Sprache in Wien und in Folge seiner Verdienste in den Adelstand, mit dem Prädikat: von Sonnenfels, erhoben.

Josef Sonnenfels studierte bei den Piaristen in Nikolsburg die Humaniora und absolvierte 1747 in Wien die Philosophie mit glänzendem Erfolg. Die kindliche Rücksicht, seinem Vater, welcher für mehrere Leibessprossen zu sorgen hatte, nicht länger zur Last zu fallen, bewog ihn, Soldat zu werden. Als solcher befand er sich längere Zeit in Untersteiermark und Böhmen, dann in Ungarn, konnte aber in fünfjähriger Dienstzeit zu keiner höheren Auszeichnung kommen als – den Korporalstock tragen zu dürfen. Das ihm wenig zusagende geschäftige Nichtstun des Garnisonslebens vermochte jedoch nicht seine Wissbegierde zu unterdrücken, und der unter Vielen Vereinsamte wählte sich zum stätigen Gesellschafter die Lektüre, welche er sich, wo es nur möglich war, habhaft zu machen suchte und erlernte überdies von Deserteurs aus Italien die italienische und französische und von Leuten, bei welchen er in Böhmen in Quartier lag, die czechische Sprache.

Auf Urlaub in Wien gekommen, wohin mittlerweile Sonnenfels Vater seinen Wohnsitz verlegt hatte, erhielt er durch Vermittlung des Oberststallmeisters Grafen von Dietrichstein, dem Schutzherrn seines Geburtsortes, die Entlassung aus dem Militärverband. Nun begann Sonnenfels sich mit allem Eifer auf die Rechtswissenschaft zu verlegen, welche auf der Wiener Hochschule von dem verdienstvollen Professor Martini vorgetragen wurde und wohnte auch zugleich den Vorlesungen bei, die sein Vater mehreren Ordensgeistlichen über die hebräische Sprache hielt, in Folge dessen er bald die Freude hatte, in der Eigenschaft eines Interpres dieser Sprache sich dem väterlichen Docenten abjungieren (oder doch adjungieren?) zu dürfen.

Um sich jedoch auch die Rechtspraxis vollends eigen zu machen, arbeitete er zugleich bei dem Grafen Hartig, damaligen Hofrate der obersten Justizstelle. Da sollte plötzlich ein Zufall seiner geistreichen Tätigkeit eine andere Richtung geben. Sonnenfels war, als Jünger der Themis, einer der fleißigsten Frequentanten der Hofbibliothek geworden, welcher Herr Gebhard Freiherr von Swieten, kaiserlicher Rat und erster Leibarzt der Kaiserin, als Präses vorstand und der dem strebsamen jungen Mann alles, was zu seiner Ausbildung dienen konnte, zugänglich machte. Eines Tages las dieser die Briefe über die neueste Literatur, in welcher folgende Stelle in dem Brief 203 sein Nationalitätsgefühl auf das Tiefste verletzte.

Es hieß darin: „Da seit zwanzig Jahren alle Provinzen Deutschlands sich bemühen, etwas zur Verbesserung ihrer Sprache beizutragen, hat dagegen Österreich auch nicht einen nur erträglichen Schriftsteller aufzuweisen.“ Dieser harte Ausspruch erfüllte ihn mit einer zornigen Erbitterung, welche sich in seinem Gemüt zu solchem Ingrimm steigerte, dass er Martini und Rieger, Beck und Schrötter und was noch auf Jurisprudenz Bezug hatte, bei Seite warf um – dieser eine Schriftsteller zu werden.

Und Sonnenfels hat Wort gehalten.

In einer Stadt jedoch wie Wien, in welcher dazumal der buchhändlerische Diebstahl: „Nachdruck“ benamset, autorisiert war und daher das Honorar für den einheimischen Verfasser gewöhnlich darin bestand, dass demselben einige Exemplare seines Werkes, pro studio et labore abgereicht wurden (Schwachheiten der Wiener von Arnold. Wien. Leipzig. F. C. Hartmann 1784), gehörte es zu den Unmöglichkeiten, von dem Ertrag schriftstellerischer Arbeiten sein Leben zu fristen, und Sonnenfels musste daher bedacht sein, einen Nebenerwerb aufzusuchen, um zu den Mitteln zu gelangen, sein Ziel weiter verfolgen zu können.

Am liebsten hätte er wohl einer Lehrkanzel der deutschen Literatur vorgestanden, jedoch bleiben alle seine Bewerbungen um eine solche vergeblich.

Obgleich durch seine meisterhafte Geburtsrede auf Maria Theresia (in einer feierlichen Versammlung der deutschen Gesellschaft vorgetragen am 10. Mai 1761) und mehrere andere Schriften bereits als geistvoller Autor und warmer Patriot bekannt geworden, zog man ihm dennoch einen Pedanten namens Papowitsch vor, welcher, wie man sich erzählte, die überaus wichtige Frage, ob der Buchstabe C wirklich ein deutscher Buchstabe sei, in drei umständlichen Vorlesungen nicht ganz gelöst hatte.

Mit nicht besserem Erfolg erging es ihm bei seiner Bewerbung um anderweitige Bedienstungen. Ein Amtsvorstand, bei welchem er um eine Anstellung competierte, und auf die Frage, mit was der Suplikant sich beschäftige, von diesem vernahm, dass er auch Schriftstellerei betreibe, sagte ihm unumwunden: „So? Ein Autor gar! Der Herr ist für meine Kanzlei zu gescheit.“ (Maria Theresia und ihre Zeit von Eduard Duller, Wiesbaden. Wilh. Beyerle 1847)

Fast in gleichem Sinne äußerte sich ein Banquier, bei welchem er vorfragte, indem dieser zu Sonnenfels sagte: „Der Musje scheint einige Capacität für das Merkantile zu haben. Ich will es mit ihm riskieren, wenn er seine Scribelei aufgibt und sich ausschließlich meinem Comptoir widmet.“

Auf ähnliche Weise aller Orten zurückgewiesen, quälenden Nahrungssorgen preisgegeben, musste er es endlich noch als Glück schätzen, die mit einem geringen Gehalt verbundene Stelle eines Rechnungsführers bei der von Maria Theresia aus den Hatschieren neu organisierten Arcieren Leibgarde zu erhalten. (Die älteste adelige Garde Österreichs. Sie leistete am 29. Dezb. 1763 in dem ihr zugewiesenen unteren Belvedere unter ihrem ersten Kapitän dem Feldmarschall Aspermont den Eid der Treue.)

In dieser Eigenschaft kam er häufig mit dem Freih. v. Petrasch, der dazumal den Rang eines Premier-Leutenants in dieser Garde bekleidete, in dienstliche Berührung. Dieser gebildete Offizier erkannte in kurzer Zeit die vorzüglichen Geistesgaben und Kenntnisse seines Subalterns und würdigte denselben eines vertrauteren Umganges, welcher ihn bald zum Liebling des freiherrlichen Familienkreises machte. Jetzt schien der Wendepunkt in Sonnenfels Leben eingetreten zu sein, denn je näher der Freiherr unsern Sonnenfels kennen lernte, umsomehr fasste er die Überzeugung, dass derselbe zu andrem berufen sei, als Verpflegs- und Monturslisten zusammenzuraiten, und empfahl in daher aus edlem Antrieb seines Herzens, und ohne hierzu ersucht worden zu sein, mit Wärme dem Staatsrat Freiherrn Aegidius von Borie. (Sonnenfels schrieb von Borie: Der ganze Zusammenhang meines Wohles ist an sich sein Werk. Er gab sich die Mühe, die sich Männer in einem gewissen Standorte so selten geben, und die doch für den Staat vielleicht der wichtigste Dienst ist, den sie ihm zu leisten vermögen, die Anlage eines jungen Menschen auszuforschen, und wozu er tauglich sein dürfte, zu beurteilen, er schlug mich zu dem politischen Lehramt, so ich bekleide, vor.) Durch die Verwendung dieses trefflichen Mannes erhielt Sonnenfels im Jahre 1763 auf der Wiener Universität die Lehrkanzel der Staatswissenschaften, in welcher Eigenschaft wir ihn eben jetzt, nachdem bereits fünfzehn Jahre seiner Amtswirksamkeit vergangen sind, begegnen.

Noch muss hervorgehoben werden, dass Sonnenfels seit der Zeit, als er den Entschluss fasste, für die Ehre Österreichs als Schriftsteller einzustehen, in dieser Eigenschaft unermüdet für die Wissenschaft, für die Reinigung der Sprache und für die Veredlung der Volksbühne wirkte, in welch letzterem Streben ihn der wackere Freiherr Tobias Philipp von Gebler auf das Kräftigste unterstüzte. (Ein zu jener Zeit erschienenes Organ spricht von Gebler: Das Polizei- und Cameralstudium, die Schulanstalten, die Wissenschaft und Aufklärung überhaupt, verdanken seiner Mitwirkung ihre Fortschritte. Um Geschmack und Sitte hatte er sich auch dadurch große Verdienste erworben, dass er die Reinigung der Nationalbühne sich so eifrig angelegen sein ließ, sie selbst mit mehreren vortrefflichen Stücken bereicherte und Sonnenfels zur Zeit der Verfolgung so tätig und wirksam schützte.) 

Wohl schufen ihm seine freimütigen Vorträge sowie das im Jahre 1775 von ihm herausgegebene Wochenblatt: „Der Mann ohne Vorurtheil“ (Diese Wochenschrift erschien jeden Sonnabend und wurde mit Begierde gelesen.), in welchenn er den Unfug der Hanswurste, Bernardone und Burline ohne Rücksicht der Verachtung preis gab, eine Unzahl Feinde, die ihn auf das Heftigste verfolgten und deren Hass sich so weit erstreckte, dass Sonnenfels sogar bei der Kaiserin als Religionsverächter, Jugendverführer und Majestätsbeleidiger verleumdet wurde.

Maria Theresia aber, ebenso gerechtigkeitsliebend als fromm, ließ eine strenge Untersuchung ergehen, welche alsobald die Schuldlosigkeit des Angeklagten in das glänzendste Licht stellte und zur Folge hatte, dass Sonnenfels statt seiner Lehrkanzel verlustig zu werden, wie seine Feinde beabsichtigten, von der hochherzigen Monarchin mit dem Titel eines kaiserlichen Rates ausgezeichnet wurde.

Von nun an erfreute er sich des erhabenen Schutzes und der ausnehmenden Gunst der großen Kaiserin, zu deren Befestigung der ebengenannte Freiherr von Gebler nicht wenig beitrug.

Von welchen Erfolgen sein Eifer für die Aufklärung seines Vaterlandes und die Verbesserung der Rechtspflege in demselben geworden, dürfte der Leser zum Teil aus dem Nachfolgenden entnehmen.

Den Faden unserer Erzählung aufs Neue aufgreifend, verfügen wir uns wieder in das Burggemach des Türhüters und finden Sonnenfels in demselben, gedankenvoll auf und niederschreitend. Es musste ein seine ganze Seele in Anspruch nehmender Gegenstand gewesen sein, der ihn damals beschäftigte, da er einen Zeitraum ruhelos hin und widerging, plötzlich stehen blieb, starr vor sich hinblickte, indessen er mit offenem Munde atmete, sich sodann über die Stirne fuhr, die Hände mit dem chapeau-bas auf den Rücken zusammenlegte,  und sich darauf wieder anschickte, seinen Spaziergang neuerdings fortzusetzen.

In diesem Moment trat der Türhüter wieder in das Gemach und sagte: „Magnifizenz möchten unaufgehalten eintreten“, welchem Sonnenfels sogleich Folge leistete.

Maria Theresia war von ihrem Sitz aufgestanden, als der Professor das Gemach betrat, und blickte verwundert dem Kommenden entgegen.

„Ei, ei“, sagte sie mit jener herzgewinnenden Liebenswürdigkeit, welche einen so unwiderstehlichen Zauber über sie ergoss, „was führt unseren Montesqieu noch so spät in Unser Appartement?“

„Eure Majestät“, versetzte Sonnenfels, sich tief verbeugend, „der Eifer, der glorreichsten Herrscherin der Gegenwart meine geringfügigen Dienste zu widmen,“

„Ich kenne sein Atachement an Unser durchlauchtigstes Erzhaus und an sein Vaterland“, sagte Maria Theresia, „leider dass seine edlen Bestrebungen für das letztere sich nicht so rasch realisieren lassen, als Er und noch Jemand es haben möchten.“

Bei diesen Worten warf sie einen Blick auf das an der Tapeziererei ober ihr hängende von Hickel gemalte Porträt Kaiser Josef II. (Josef Hickel, geb. 1734, gest. 1807, der berühmteste Porträtmaler seiner Zeit und besonders bei Hofe beliebt.)

„Eure Majestät“, sprach Sonnenfels, „werden diesen Eifer nicht mißdeuten. Ohne es zu wollen, drängt sich jedem wahren Menschenfreund die Frage auf: Wie lange werden wir es noch anstehen lassen, die Dachläden aufzuheben, welche verhindern, dass kein Tag in den Geist der Nation fällt?“ (Sonnenfels’ eigene Worte. Denkwürdigkeiten Wiens von Wekhrlin 1777)

„Glaube Er mir“, erwiderte Maria Theresia, „dass ich es nur zu gut erkenne, was die Zeit erfordert, und dass ich es aus tiefem Grund zu würdigen weiß, was Er für Staats-, Handels- und Finanzwirtschaft bereits geleistet hat (Sonnenfels arbeitete in zehn Jahren ein Lehrbuch der Polizeiwissenschaft aus, welches im Jahre 1765 erschien, 1769 erschien seine Handelswissenschaft und 1776 die Finanzwissenschaft.), dass ich es zu würdigen weiß, welche rastlosen Bemühungen Er sich gibt, den Geschmack der Wiener zu bilden, das Extemporieren bei unserer Hofbühne abzustellen und ein sittliches geregeltes Schauspiel einzuführen. Sei er versichert, was das Teatro betrifft, dass auch ich keine absonderliche Freundin des Hanswurst und seiner früheren Repräsentanten Prehhäuser und Stranitzky bin, wenn auch der letztere von seiner Kreuzerhütte auf dem Mehlmarkt in das Kärnthnerthortheater avancierte, noch hege ich vorzügliches Wohlgefallen an dem Kurz und Weißkern. Demungeachtet muss Ich es ihm unumwunden sagen, dass es Mir öfters ganz unpassend erscheinen will, dass Er, als Lehrer der politischen Wissenschaft, als Doktor der Philosofie und der Rechte, den Gegner des Hanswurst abgeben kann. Ein Doktor und ein Hanswurst! Es ist zu wunderlich!“

„Das ist es wohl allerdings“, versetzte Sonnenfels. „Da aber die Erbärmlichkeit unserer Theaterzustände in einer Zeit, in welcher Lessings Minna von Barnhelm in Hamburg und Leipzig gegeben wird, nicht mehr fortbestehen kann, ohne uns die Schamröte in das Gesicht zu werfen, und alle meine ehrenwerten Kollegen in Apollo aus Furcht vor der Narrenpeitsche ihre Feder hinter das Ohr stecken und verstummten, so blieb wohl nichts anderes übrig, als dass ich selbst den Verderbern der Sitte und des guten Geschmackes den Fehdehandschuh hinwarf.“

„Es ist ein erfreuliches Zeugnis Seines Mutes und Seiner Energie, und Er wird, als Gründer des Burgtheaters, einen bleiben Namen haben, wenn ich Ihm auch bekennen muss, dass es mich unangenehm afficiert, dass diese Komiker in der Bauernjacke, die ihre Existenz durch Ihn gefährdet sehen, Ihm alles zu Bolzen drehen und allerlei Intrigen wider ihn ausführen, ja dass sie Ihn sogar in der Farce von Klemm: 'Der auf den Parnass versetzte grüne Hut' als Karikatur auf die Bretter brachten. Es ist doch kein neuer Skandal von diesen Personagen arriviert?“

„Eure Majestät“, sagte Sonnenfels, „die letzten Stunden eines scheidenden Jahres sind zu ernst, um in denselben Eure Majestät mit diesem Gegenstande belästigen zu wollen. Es ist ein Größeres und Wichtigeres, was ich Eurer Majestät vorzulegen wünschte.“

Gleichwie zuweilen früher nicht wahrgenommene Gewölke plötzlich die sonnenhellen Gipfel der Berge undüstern, so lagerten sich auch nach diesen Worten auf der hohen Stirn der Kaiserin die Schatten des Ernstes.

„Es betrifft“, fuhr Sonnenfels fort, „eine Angelegenheit der leidenden Menschheit, die Constitutio criminalis Theresiana.“

„Mein lieber Sonnenfels“, sagte Theresia, „Er weiß, dass ich in diesem Punkte seinen Ansichten großen Teiles beipflichte, wenn aber auch der Strafcodex Abänderungen erheischen sollte, so sind selbe nicht so leicht einzuführen, als wie das Herz es uns eingeben möchte. Er weiß, dass ich in den Grafen Althan und Hartig, dem Freiherrn von Kannegießer und anderen eine eigene Hofcommission niedersetzte, welcher ich es zur Aufgabe machte, die bestehenden verschiedenen Criminal-Ordnungen zu verbessern, aus welcher Verbesserung die constitutio criminalis hervorgegangen.“

„Wer wüsste nicht diesen weisen Akt der Vorsicht Eurer Majestät zu würdigen. Jedoch sind in dieser aus der Carolina (die peinliche Gesetzgebung von Kaiser Karl V.) stammenden Constitutio die vielfältigen Reste alter eingerosteter Barbarei zurückgeblieben und mit der Anwendung der Tortur verbunden, welche weder vom rechtlichen noch moralischen Standpunkt einer fortschreitenden Zeit zu billigen ist und die mich, auf die hohe Weisheit und Herzensgüte Eurer Majestät bauend, veranlasste, in einem alleruntertänigsten Votum seperatum die Gründe gegen den Fortbestand derselben auseinander zu setzen.“

„Ich habe dieses Votum aufmerksam durchgelesen“, erwiderte die Kaiserin. „Er sucht in dieser Scriptur mit seinem scharfen Verstand zu beweisen, dass das durch die Folter erpresste Geständnis nicht zulässig sei. Aus seinem Konzept spricht aber mehr der literarische Samariter, als der Physiolog oder der Mann der Gerichtspraxis.“

„Ich glaube beides in meinen Schriften, die ich über diesen Gegenstand veröffentlichte, und die selbst vom strengen Ausland gewürdigt wurden, vereint zu  haben. Nicht der Physiolog, nicht der praktische Justizmann sind es, die sich der Abschaffung der Prozedur entgegensetzen, es sind die Männer eines veralteten Systems, welche gewohnt sind, sich nur in dem Geleise der bisher ausgeübten Praxis zu bewegen, und bei der Änderung des peinlichen Verfahrens den Boden unter den Füßen zu verlieren fürchten. So wie die Anhänger der alten Schule gleich meinem ersten Vortrag auf der Universität: 'Über die Unzulänglichkeit der alleinigen Erfahrung in den Geschäften des Staates' entgegentraten, so traten Hacke, Lyser und andere, welche zu benennen mir die Umstände verbieten, jeder Neuerung in der Gerichtsverwaltung entgegen. Die vorzüglichsten Rechtsgelehrten, die in der Strömung der Zeit wandeln, stehen jedoch auf meiner Seite. Ich nenne nur Johannes Greve, Thomasius, Adolf Cäsar, Marquis Beccavia und den tyrolischen Kanzler Hormayer; durch sie hat der Geist des Fortschrittes und der Aufklärung bereits sein Urteil über diese wichtige Streitfrage abgegeben. Eure Majestät, lassen Sie dieses Urteil von Ihrem Herzen sanktionieren. Heben Eure Majestät die Folter auf.“

Maria Theresia erwiderte sichtbar ergriffen: „Glaube Er mir, Sonnenfels, dass mein Herz nichts sehnlicher wünscht, als dieses tun zu können, aber mein Verstand sagt mir, dass die Zeitumstände hiezu noch nicht geeignet sind.“

„Eure Majestät, jede Zeit ist geeignet, ein anerkanntes Unrecht abzuschaffen, jede Zeit ist geeignet, ein Großes, ein Edles zu vollbringen, umsomehr die gegenwärtige, da sie die bedeutendste Entwicklungsphase des österreichischen Staates bildet. Setzen sich Eure Majestät in dieser Stunde das größte Denkmal Ihres Ruhmes, ergänzen Eure Majestät durch diese Tat der einen Menschlichkeit die vielfachen Beweise, welche die weise und gerechte Regierung Eurer Majestät durch fünf und dreißig Jahre geliefert: Wie hoch die Persönlichkeit eines Monarchen die Nation erheben könne; machen Eure Majestät mit diesem Akt der Gnade dem Volke, das der Wille Gottes unter Ihren Zepter gestellt, an dem morgigen Tage eine Neujahrsspende.“

Maria Theresia ging tiefsinnig einige Schritte im Gemach auf und nieder, trat dann wieder an ihren Arbeitstisch und blätterte mechanisch in ihrem Andachtsbuch „die geistliche Halszierde“ betitelt, ohne aber in dasselbe hineinzublicken, noch Sonnenfels eine Antwort zu geben.

Ihre geistige Erkenntnis kämpfte sichtbar mit der ihr eigen gewordenen Scheu vor jeder Reform, welche ein Altherkömmliches beseitigen sollte, eine Scheu, die sie durch ihr Leben begleitete und welche nur die starre Beharrlichkeit eines Kaunitz oder die Überredungskunst eines Swieten zu bewältigen vermochten.

Sonnenfels folgte mit der gespannten Aufmerksamkeit jeder Ihrer Bewegungen, und fuhr sodann fort:

„Ich erlaube mir nur, Eurer Majestät in das Gedächtnis zurückzurufen, indem wir bloß einen flüchtigen Blick auf die Vergangenheit werfen, dass der Ruhm der großen Gesetzgeber der Nationen durch die Erfindung, einem Menschen mittelst körperlicher Qualen dasjenige abzudringen, was man von ihm erfahren oder vielmehr wessen man ihn schuldig machen wollte, verunziert wird. In den Gesetzen der Lykurge, der Salone, der Saleukuse, selbst der blutrünstigen Drakonen, in den schönen Jahrhunderten des freien Griechenlands ist die Folter ein unbekanntes Werk. Bei den Völkern der deutschen Abkunft, bei sämtlichen Völkern, welche der Nord aussendet, die südlichen Teile Europas zu verheeren und sich unterwürfig zu machen, war die Folter ein ihren Halsgerichten fremdes Verfahren. Die Engländer hatten Zweikämpfe und 'Gottesorbeln' aus den menschlichen Gerichten verbannt, jedoch an ihre Stelle keine Folter zu der Untersuchung der Halsverbrecher aufgenommen. Nur Unterdrückung, feige Thyrannei, Fanatismus und Raubgierde sind als die Erfinder der Folter zu bezeichnen. Der nach Gold und Blut dürstende Eroberer von Peru verfiel darauf, einen unglücklichen Inkas, an der Seite seines Lieblings, auf glühende Kohlen hinstrecken zu lassen, um von ihm den Ort zu erfahren, wo er die Schätze verborgen habe. Dies waren die Urbilder, denen die Richterstühle nachher ihre Untersuchungsart abborgten und vergebens hofften, den Schandfleck einer so abscheuwürdigen Herkunft durch den Nutzen zu verlöschen, welchen das Gemeine daraus schöpfen würde. Sie glaubten irrtümlich, was ehehin ein Werkzeug des Lasters gewesen, nunmehr mit Vorteil gegen das Laster zu wenden und es auszurotten. Wo liegt ein Beweis für die Zuverlässigkeit der Folter? Wird der Untersuchte zum Geständnis gebracht, so beweist dasselbe keineswegs, dass er ein ihm zu Last gelegtes Verbrechen gewiss begangen habe; das allein beweist es, er habe der Gewalt der Streckung, der Schraubung, der mannigfachen Marterarten nicht widerstehen können. In dem kritischen Zeitpunkt der auf das Höchste gebrachten Empfindsamkeit entriss ihm der Schmerz – die Sprache der Wahrheit.“ –

„Welch’ ein Wahn!“

„Diese Wahrheit in sich selbst, kann ein Widerspruch der Anklage eine Beteuerung seiner Unschuld, seiner völligen Unwissenheit sein. Die Sprache der Gequälten ist es also, welche nur das Verlangen ausdrückt, den Richter zu bewegen, den Peiniger abzurufen, und was Philotas einst dem Kraterius von der Folterbank zuschrie: Sprich, was verlangst du, das ich sagen soll? Das ruft im eigentlichen Verstand bei dem Gefolterten, dessen Kräfte gebrochen, die Wahrheit: Haltet ein, mich weiters zu peinigen, ich habe das Verbrechen verübt weil Ihr ja wollt, dass ich es verübt haben soll!“

„Das auf der Marterbank abgelegte Geständnis ist demnach ein Geständnis, das der seiner Kräfte beraubte ablegen musste, und die hierauf erfolgte Verurteilung kann nicht sagen: Weil du das Verbrechen begangen, so sollst du hingerichtet werden, sondern dem wahren Inhalt nach: Weil du gezwungen worden zu sagen, du habest das Verbrechen begangen, wirst du hingerichtet.“

„Die Strafe ist nicht die Folge des erwiesenen Lasters, sondern der Schwäche des Gefolterten.“

Maria Theresia warf sich in Ihren Samtstuhl und heftete gedankenvoll die Blicke auf die Arabesken und Chinoiserien des Ofenschirmes.

„Eine Verordnung Eurer Majestät“, sprach Sonnenfels nach einer Pause weiter, „hat vor langer Zeit die ausgesetzte Folter aufgehoben.“ (Sonnenfels Worte. Ueber Abschaffung der Tortur. Zürich 1775) „Was hat diese weise Verordnung veranlasst? Das Zeugnis, die dringende Vorstellung der Ärzte, dass die Folterung die Kräfte der wenigsten Inkulpaten auszuhalten imstande sind.“

„Diese Entschließung hat gewissermaßen gegen die Tortur überhaupt entschieden: Der Auftrag des Arztes, welcher die Leibesbeschaffenheit eines Untersuchten beobachten und gleichsam seine Leidensfähigkeit berechnen soll, läuft immer da hinaus: den Grad zu bestimmen, wo der Schmerz der Folter mit den Kräften der Gefolterten im Gleichgewichte steht, einen Punkt darüber, unterliegt er der Empfindung, einen Punkt darunter besiegt er ihn.“

„Also wird die verschärfte Folter jede Kraft überwältigen, wird also jeden, den Unschuldigen wie den Schuldigen, ohne Unterschied, von der Marterbank auf das Totengerüst senden.“

„Eben jetzt“, sprach Sonnenfels, nachdem er längere Zeit innegehalten, „harrt ein Unglücklicher mit Todesangst der Folterqual, der er übermorgen verfallen soll, um auf die angeführte Weise durch die empörendsten Martern zu gestehen, was er vielleicht nicht begangen hat.“

Maria Theresia, welche ihm aufmerksam zugehört hatte, erhob sich jetzt von ihrem Stuhle, und ging heftig bewegt im Gemach auf und nieder.

„Justitia et clementia ist der Wahlspruch meiner erhabenen Kaiserin“, fuhr Sonnenfels fort. „O lassen Eure Majestät auch jetzt den Wahlspruch zum Wahrspruch werden. Lassen Eure Majestät den Bejammernswerten den Ersten sein, den der Strahl ihrer Milde beleuchtet! – Machen Eure Majestät den ersten Tag des Jahres 1776 zu den glorreichsten, der über die Völker Österreichs aufgeht, den Tag der Gerechtigkeit und Milde.“

„Sonnenfels“, sprach die Kaiserin, „Er spricht gegen die Tortur und torquiert ich selber.“

„O, Eure Majestät“, sprach Sonnenfels, ohne sich hiedurch unterbrechen zu lassen, „lassen Sie nicht fürder Ihren ruhmstrahlenden Namen dadurch missbrauchen, dass er die Überschrift eines Strafbuches bilde, das die Barberei der Vorzeit zur Grundlage hat, lassen Eure Majestät Dero edles mütterliches Herz walten, wie es seiner Empfindung nach walten möchte. Heben Eure Majestät die Folter auf!“

„Ich will es überlegen“, versetzte herauf die Kaiserin.

„Eure Majestät, das hat Ihr Herz schon überlegt. O reißen sich Eure Majestät los von einem Herkommen, das sein Heil mit sich führt und Blut und Tränen im Gefolge hat. Bei den Grundsätzen unserer Religion, heben Sie die Folter auf!“

„Wohlan“, versetzte Maria Theresia, indem sie von Ihrem Stuhl emporrauschte, in den sie sich wieder geworfen hatte. „Ich werde morgen, wenn die Aufwartung und die Function mit den Spielleuten vorüber sind, mit dem Minister Kaunitz die Sache feststellen. (Am Neujahrstag bachten die gesammelten Trommelschläger und Pfeifer des kaiserlichen Leib- und Stadtguardia-Regiments ihre übliches Neujahrscompliment dem Hofe dar. Dr. Adam Wolf. Österreich unter Maria Theresia.)

„Verschieben Eure Majestät nicht auf morgen, was heute geschehen kann.“

„Er ist ungemein pressiert“, sagte Maria Theresia.

„Eure Majestät“, rift Sonnenfels in der heftigsten Aufwallung seines Herzens, und in der vollsten Überzeugung, dass von diesem wichtigen Moment die Entscheidung über das Wohl und Wehe einer großen Völkerzahl abhänge, und warf sich der Kaiserin zu Füssen. „Bei dem geheiligten Namen der Unschuld, bei dem tiefen Gefühl Ihres Herzens, das stets die Zufluchtsstätte der bedrängten Menschheit war, heben Eure Majestät die Folter auf!“

Eine lange Pause erfolgte, da trat Maria Theresia vor ihn hin, und sagte mit fester Stimme, in der sich die vollste Entschlossenheit aussprach, indem sie dem Knieenden winkte aufzustehen: „Seine Bitte sei erfüllt.“

„Dank! Tausend Millionen Dank, im Namen Ihrer Völker, im Namen der ganzen Menschheit!“ jubelte Sonnenfels mit freudestrahlendem Gesicht und küsste mit Heftigkeit den Saum ihres Kleides.

„Aber besiegeln Eure Majestät diesen edlen hochherzigen Entschluss mit einem huldvollen Federzeug!“

„Was fordert Er noch?“ fragte Maria Theresia, indem sie sich betroffen und rasch zu ihm wendete.

„Durch die segenspendende Hand Eurer Majestät bestätigt, was Sie der leidenden Menschheit mündlich gewährten.“

„Traut Er meinen Worten nicht?“ fragte Maria Theresia pikiert.

„Wie den Worten Gottes, aber noch einmal flehe ich: Nur die Zeile: 'Mit dem ersten Januar 1776 ist die Tortur abgeschafft!'“

Maria Theresia stand Sonnenfels hoch und unbeweglich gegenüber, und ihr Auge schien sich tief in seine Seele versenken zu wollen, aber schon in der nächsten Minute hatte ihr lebhafter Geist erraten, was Sonnenfels zu dieser Bitte bewegen mochte. Er fürchtete von den Verteidigern der alten Gerichtspflege, wenn auch nicht die Verhinderung der kaiserlichen Zusicherung, doch aber eine Verzögerung ihrer Bekanntmachung.

„Er ist ein rechtschaffener, geistvoller uns seltener Mensch“, sagte hierauf Maria Theresia mit huldvollem Lächeln, „aber Er ist auch ein – Schlankl!“ („Schlankl“ im Wienerischen Dialekt: ein Schlaukopf. Maria Theresia liebte es zuweilen, sich im gewöhnlichen Volksdialekt auszudrücken, ich erinnere nur an die bekannte Anekdote „der Poldl hat an Buam“ und an das „blawe Buich“ in den Memoiren der Karoline Pichler.)

Nach diesen Worten ging sie nach ihrem Schreibtisch, setzte sich und beschrieb mit fliegender Hand einen Papierstreifen.

Sonnenfels Auge schien an diese weiße und schöngeformte Hand der Kaiserin wie gebannt zu sein, und folgte jeder ihrer flüchtigen Bewegungen.

Jetzt warf Maria Theresia die Feder zur Seite, erhob sich und reichte das Papier dem freudentrunkenen Professor. (Maria Theresia hatte häufig die Gewohnheit, ihre Befehle an Kaunitz, Chotek, Haugwitz etc. auf kleine unscheinbare Zettel zu schreiben. Österreich unter Maria Theresia von Dr. Adam Wolf. Wien 1855.)

Noch einmal warf sich dieser zu ihren Füßen, küsste mit glühender Inbrunst die ihm dargereichte Hand der Kaiserin und rief: „Möge der Allmächtige die durchlauchtigste aller Frauen und erhabene Enkelin Karls V. noch lange ihren Ländern und ihren Völkern erhalten“, worauf er den unscheinbaren Zettel , den der Zufall ausersehen hatte, der Träger von so Unerwartetem und so Wichtigem für die Menschheit zu werden, hoch in der Rechten haltend, aus dem Gemach entschwand.

Die Kaiserin folgte mit ihren großen stahlgrauen Augen dem Enteilenden, dann warf sie sich wieder in ihren Lehnstuhl, schlang die Hände über die Brust und überließ sich ihren Gedanken, welche sie anfänglich mit den Begebenheiten der nächsten Stunde beschäftigten, bald aber weit hinaus über diese beengende Grenze schweiften, und ihr alle Wechselfälle ihres taten- und segensreichen Lebens wieder vor das innere Auge führten.

Die pragmatische Sanktion ihres durchlauchtigsten Vaters, der österreichische Erbfolge-Krieg, der böse Mann, die Opferfreudigkeit der Ungarn, die Allianz mit dem Versailler Kabinett, der Tod ihres vielgeliebten Gemahls, ihrer bräutlichen Tochter, ihre eigene schwere Erkrankung, die Vermählung der Erzherzogin Maria Antoinette, die edlen aber ungestümen Bestrebungen ihres erhabenen Sohnes, des Mitregenten, die unselige Teilung Polens, die ihr Herz tief verletzte, alles dieses zog in lebhaften Bildern an ihrer Seele vorüber und versetzte sie in die abwechselnden Stimmungen, welchen eine völlig geistige und körperliche Erschlaffung folgen musste.

Der arme Türhüter Andreas war lange schon über seiner wienerischen Diaria eingeschlafen, als seine Herrin der Ruf der Wachen nach Ablösung, welcher unter ihr auf dem Burghauptplatz erscholl, wieder aus ihren Träumereien in die Gegenwart zurückbrachte.

Die Kerzen waren zu düster glimmenden Lichtschnuppen herabgebrannt, als sie sich von ihrem Sitz erhob, an das Fenster trat und in die starrende Winternacht hinausblickte. Der Schnee flockte noch immer in dichten Massen von der nächtlichen Himmelsdecke, und der Burgplatz glich einem weiten Friedhof.

Die beiden hochüberschneiten Stücke vor der Wachtstube der Stadtquardia schienen in Schnee versunkene Kirchhofsmonumente zu sein, und die beiden Wachtmänner, welche in ihre Kapuzenmäntel gehüllt, auf- und niederschritten, hatte das Ansehen von Grabgespenstern.

Der Wind rüttelte mit Ungestüm an den Fensterrahmen und umtobte stoßweise mit heftigem Gebrause den Sims und die Mauerecken, den auf den Vorsprüngen dort angehäuften Schnee in wilden Wirbeln mit sich fortreißend, ihr aber war, als tauche ein Frühling mit Maienluft und Sonnenschein, mit Blütenfülle und Farbenpracht, aus der grabesfinsteren Nacht des scheidenden Jahres empor, eine neue Welt, voll beglückender Verheißungen und fruchtbringender Segnungen, denn sie fühlte in ihrem Innern, dass sie eine große Tat begangen. Sie hatte sich das unvergängliche Denkmal in der Geschichte der Menschheit und der österreichischen Gesetzgebung errichtet.

In diesem Moment schlug die Schlossuhr im Amalienhof die zwölfte Stunde.

Das Jahr, in welchem die grausamsten Überreste einer barbarischen Vorzeit ihr Ende gefunden, war herangebrochen und durch die lautlose Winternacht ertönten allmählich die metallenen Glockenzungen von St. Michael, den Schotten, Maria Schnee, von St. Stefan und Ruprecht und all den anderen Türmen und begrüßten seine Ankunft.

Als der Neujahrsmorgen aber sein junges Licht über die schneebedeckten Dächer und Giebel der Residenz verbreitete, war ganz Wien in der freudigsten Aufregung.

Dichte Menschenhaufen drängten sich an der Ecke des Elephantenhauses auf dem Graben, am Schrannengebäude, auf dem Hohen Markt, an der Universität und an vielen anderen Straßenecken, um ein Plakat zu lesen, dessen Druck der Feuereifer Sonnenfels noch in der Nacht mit Hilfe seines Freundes, des Hofbuchdruckers Freiherrn von Trattner, auf fast unglaubliche Weise zu Stande gebracht hatte.

Es lautete:

Wir Maria Theresia
von Gottes Gnaden, römische Kaiserin, Wittib,
Königin von Hungarn, Dalmatien, Kroatien,
Slavonien, Galizien, Lodomerien etc.
geben unseren gesammten treugehorsamsten Obrig-
keiten und Unterthanen hiermit gnädigst zu verneh-
men, daß mit dem ersten Januarius des Jahres 1776
die Tortur in unseren k. k. österreichischen Erbstaaten
für jetzt und alle Zeiten als aufgehoben, und nicht mehr
bestehend, zu erachten sei.
Hiermit geschiehet Unser allerhöchster Willen und Befehl.
Ergeben in unserer Stadt Wien, den einundreißigsten
des Christmonats im siebzehnhundertfünfundsiebzigsten,
Unserer Reiche im fünfunddreißigsten Jahre.
Maria Theresia.

Wohl wurden viele durch diese unerwartete Kundmachung überrascht, am meisten die Anhänger der alten Practica criminalis; aber die wenigen Stimmen der Missbilligung, welche über diesen Gnadenakt laut wurden, verschollen in dem lauten Freudenjubel, welcher die Kaiserstadt erfüllte. Sonnenfels aber fühlte sich durch die hochherzige Handlung der Kaiserin höher geehrt, als durch seine 1799 erfolgte Ernennung zum k. k. Hofrath bei der böhmischen und österreichischen Hofkanzlei, wie auch durch seine Erhebung in den Reichsfreiherrnstand durch Kaiser Franz II., durch Verleihung des Stefans- und Dannebrog-Ordens und all der Auszeichnungen, welche er sich bis zu seinem im 84. Jahre erfolgten Todestag, den 26. April 1817, zu erfreuen hatte.

Quellen:
Vogl, Dr. Johann Nepomuk: Aus dem alten Wien. Wien: Verlag von Prandel & Ewald, 1865

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im Dezember 2020