Schwester Innozenz

Die Geschichte "Schwester Innozenz" aus dem Buch von J. Vinzenz "Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt" gibt ein lebendiges Bild der Schwester Innozentia Bögl, der langjährigen Oberin des Elisabethinums.
1956

Dem schönen Tag ist ein stiller, sanfter Abend gefoll Rund um den Turm unserer lieben, alten Pfarrkirche, die von der Dämmerung mit ihren dunklen Armen umschlungen wird, schwebt in lautlosem Gleitflug die Fledermaus. Zaghaft flimmert auf dem schwarzblauen Himmel ein Stern. Der volle Mond zieht über die Dächer, blickt wohlwollend auf die Erde herab.

Ich sitze auf einer Bank in der Anlage neben der Kirche und meine Gedanken ergehen sich auf den schon halbverwischten Pfaden der Vergangenheit. Und da rollt der Vorhang auseinander, der siebzig Jahre verhüllt, ich bin zurückversetzt in eine Zeit, die dem Menschen noch nicht schwerfällt, in die Kinderzeit. Die sieben Jahrzehnte haben an der Kirche keine Veränderung hervorgebracht, aber aus dem Kind von damals ein alter Mann geworden.

Vor meinen Augen ersteht jetzt der Kirchenplatz von einst. Ich sehe wieder die zwei großen Kastanien und den "Wetschinabam", wie wir Kinder den Trompetenbaum nannten, weil seine langen, dünnen Samenhülsen eine Ähnlichkeit mit der Virginierzigarre aufwiesen. Sie sind fort, nur die mächtige Platane ist noch da. Zu ihr habe ich aufgeblickt, als daneben noch das alte Kloster stand. Auch das ist fort, und an seiner Stelle steht jetzt das "Elisabethinum". Das Kloster war eine Kleinkinderbewahranstalt, ein alter Bau, dessen Grundmauern noch aus den Zeiten stammten, als König Matthias Corvinus (1483) Österreich bekriegte und die "Veste St. Veit bey Wien" eroberte. Wuchtige Pfeiler trugen schwere Gewölbe, eine dicke Tür aus Eichenbohlen drehte sich in starken Eisenangeln, und durch einen finsteren Gang kam man in einen lieblichen Hof. Es gab da hohe Nußbäume und blühende Fliederbüsche, Hühner liefen herum, und durch eine Lattentür steckten Ziegen ihre bebarteten Köpfe. Drei Dutzend Kinder krabbelten im Sand unter der Aufsicht geistlicher Schwestern, deren Oberin die Schwester Innozenz war.

Vier Jahre war ich geworden und hatte bisher ein Leben voller Wonne in völliger Freiheit geführt. Das sollte nun anders werden. Eines Morgens führte meine Mutter mich "ins Kloster". Für einen Kostenbeitrag von zwei Kreuzern täglich sollte ich hier sozusagen Pensionär werden. Als wir vor der Pforte standen und die Mutter die Glocke zog, da kam die Angst über mich, ich fühlte meine persönliche Freiheit in Gefahr und wollte ausreißen. Die Mutter aber hielt mich fest, also begann ich fürchterlich zu brüllen. Da öffnete sich die schwere Tür, und heraus trat die Schwester Innozenz. Sie war von kleiner, rundlicher Gestalt, schwarz war ihr Kleid, weiß ihre Haube, und ein großer Rosenkranz hing ihr zur Seite. Sie sprach kein Wort. Sie blickte mich bloß an. Da sank all mein Mut, ich stellte den Radau ein, folgte gehorsam der Schwester ins Innere - und war dem Kloster verfallen.

Schwester Innozenz war aus der Stadt, "vom Schottenfeld", gekommen, um in Ober-St. Veit diese Anstalt zu errichten. Der damals in Wien weit bekannte und verehrte P. Urban hatte sie dazu bestimmt. Sie hatte keine pädagogischen Studien hinter sich, sie besaß aber den sogenannten gesunden Hausverstand und war von einer seltenen Güte. Sie hat nie mit den Kindern gezärtelt, aber auch niemals mit ihnen herumgeschrien, es ging alles ruhig und wie selbstverständlich, sie erzog uns förmlich mit den Augen. Wir hingen alle an ihr. Dreien Generationen St.-Veitern hat sie die ersten Schritte für den Lebensweg beigebracht, und es ist in späteren Zeiten oft vorgekommen, daß wenn sie auf der Straße war, irgendein Mann auf sie zukam und mit einem tönenden: "Küß d Hand, Schwester Innozenz!" sie begrüßte. Und förmlich gekränkt war, wenn sie ihn nicht sofort erkannte.

"Was, Schwester Innozenz, Sö kennen mi net? I bin do vor dreißig Jahren zu Ihnen ins Kloster gangen!"

"Jo, jo", sprach sie dann, "du warst aner von meine Buabn, i weiß es schon, aber, muaßt net harb sein, i hab halt dein Nam vergessn ..."

Die Mädel, die im Kloster weibliche Handarbeiten lernten, mußten monatlich fünfzig Kreuzer die ärmeren und einen Gulden die von den Besitzenden bringen. Merkwürdigerweise waren diese oft im Rückstand. Die Schwester, die mit jedem Kreuzer rechnen mußte, war daher genötigt, sich das Geld selbst zu holen. Und da hat sie mich stets mitgenommen. Ich bin nämlich schon zwei Jahre Zögling gewesen und bin zu allerlei kleinen Geschäften verwendet worden.

Und so sagte Schwester Innozenz eines Tages wieder: "Bua, richt in Bucklkorb, mir gengen Schuldenfödern!"

Es trug sich oft zu, daß wir in manchen Häusern einige Eier oder ein Stück Butter oder Geselchtes bekamen, was ich dann im Bucklkorb heimtrug. Und da hatten wir einmal einen besonders schlechten Tag. Anstatt fünf Gulden einzuheimsen, waren wir schon bei allen Schuldnern gewesen, und die ganze Ausbeute betrug einen einzigen Gulden und sechs Eier. Bei der einen Bäuerin war der Futterhändler gewesen, der anderen war der Mann übers "Eierbecherl" gekommen und hatte das Geld ins Wirtshaus mitgenommen. Nämlich die Bäuerin, die viele Hühner besaß, verkaufte die Eier und versteckte das eingenommene Geld in irgendeinem Häferl. Der ruchlose Mann aber war stets auf der Suche nach dem "Eierbecherl", und fand er es, so hatte die Frau das Nachsehen.

"Bua", sagte Schwester Innozenz, "heut gehts uns schlecht! Heut müssn wir den heiligen Josef bitten, daß er uns was schickt!"

"Schwester Innozenz", hab' ich erwidert, "mir habn aber no a Haus!"

Als wir aber in dieses letzte Haus kamen, da fanden wir einen kranken Mann und eine verweinte Frau vor. Schwester Innozenz, die mit klugen Augen die Sachlage sogleich überblickt und erkannt hatte, hat nicht gesagt, weshalb wir gekommen, sie hat vielmehr die Frau getröstet und dem Mann Mut zugesprochen. Hierauf sind wir gegangen. In der Küche hat die Schwester den einzigen Gulden, den wir eingenommen, aufs Kastl gelegt und die sechs Eier dazugegeben. Dann haben wir uns still aus dem Haus hinausgeschlichen...

"No, no, zwegn dem anzign Guldn", wird vielleicht irgendwer sagen, "zahlt sich gar net aus, daß ma davon redt!"

Nein, so ist die Sache, oder vielmehr, so war damals die Sache nicht. Es handelte sich nicht um den Gulden an sich, sondern darum, wie schwer und unter welchen Umständen er gegeben wurde, und nur ein Mensch, wie die Schwester Innozenz einer gewesen, hat dies vermocht...

Droben auf dem Turm fällt der Hammer auf den Glockenrücken und weckt mich aus meinem Sinnen. Ein Stück Kinderzeit ist an mir vorübergeglitten. Nun bin ich wieder wach, bin in der Wirklichkeit. Ein Schlag um den anderen kommt von der alten Glocke, das Mondlicht rieselt durchs Geäst der hohen Platane, da habe ich Abschied genommen von der Bank am Kirchenplatz und bin heimgegangen.

Quellen:
© Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt: Bezirksmuseum Hietzing

Vinzenz Jerabek