Europa ohne Kinder - Hat die Familie noch Zukunft?

Vortrag von Dr. Gudula Walterskirchen im Rahmen der Reihe "Kirche und Gegenwart" der Pfarre Ober St. Veit
17.10.2017

Die Vortragsreihe „Kirche und Gegenwart“ der Pfarre Ober St. Veit bringt interessante Referenten zu interessanten Themen in unsere Region. Diesmal sprach die Buchautorin, Historikerin und Journalistin Dr. Gudula Walterskirchen unter dem apokalyptischen Motto: „Europa ohne Kinder - Hat die Familie noch Zukunft?“

Das Thema Familie berührt uns alle, und der Pfarrsaal war dementsprechend gut gefüllt. Die Zuhörer waren überwiegend reiferen Alters und konnten daher auf viele Jahrzehnte eigener Beobachtungen zur gesellschaftlichen Entwicklung und zur sogenannten Familienpolitik zurückblicken. Frau Dr. Walterskirchen konnte also nicht viel Neues erzählen. Aber sie konnte etliches auf den Punkt bringen.

Zum Beispiel die untergeordnete Rolle der Familienpolitik in der Wahlwerbung zur Nationalratswahl am 15. Oktober 2017. Diese Meinung von Dr. Walterskirchen lässt sich leicht überprüfen. Während in Deutschland ein „Wünsch-dir-was-Feuerwerk für Familien“ (Frankfurter Allgemeine, Beitrag vom 24. August 2017) brannte, liefert das Stichwort „Familie“ in einer Presse-Zusammenstellung der Wahlprogramme der Parteien in Österreich nur ein einziges Ergebnis, und zwar mit der Forderung nach einem „Rechtsanspruch auf einen hochwertigen Kinderbetreuungsplatz ab dem zweiten Lebensjahr“. Und sogar diese Forderung ist zu hinterfragen, was im Vortrag auch getan wurde. Doch Frau Dr. Walterskirchen ist zu einem wesentlichen Teil ihres Schaffens eine Historikerin (zuletzt hat sie mit einem Buch über die Zwischenkriegszeit Aufsehen erregt), und sie hat daher mit der Geschichte der Familie begonnen.

Früher konnte der einzelne Mensch nur im Rahmen einer Familie überleben, und so ähnlich war es bis ins späte 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung vieles änderte. Sie brachte auch die Erwerbsarbeit der Frau außerhalb der Familie, und die ökonomische Einheit Familie (mit allen Vor- und Nachteilen) wurde zerrissen. Die Vereinzelung der Menschen begann. Die familiäre Fürsorge wurde sukzessive durch staatliche Fürsorgeeinrichtungen ersetzt, für Kinder, Kranke, behinderte Menschen, alte Menschen etc. Das hatte natürlich seine guten Seiten, denn es gab für in Not Geratene bessere Auffangnetze, aber diese Entwicklung wurde auch aus ideologischen Gründen forciert, denn der vereinzelte Mensch kann besser indoktriniert werden, vor allem in totalitären Systemen.

Das eigene Einkommen gab den Frauen auch die Freiheit, untragbaren Zuständen in der Familie zu entkommen. Hart erkämpfte Eherechtsreformen verbesserten die Stellung von Frau und Kind und beendeten – allerdings erst mit der Familienrechtsreform 1975 – die Dominanz des Mannes. Die rechtliche Gleichstellung der Frau schritt voran und damit die Selbstbestimmung in allen Fragen, auch von der Verhütung bis zur Abtreibung. Doch die Agitation gegen die Frau am häuslichen Herd trübte diese Selbstbestimmung, denn bald bedurfte es eines gehörigen Selbstbewusstseins, um sich für den Haushalt und die Betreuung der eigenen Kinder zu entscheiden. Aber grundsätzlich werden diese ab den 1970er-Jahren wachsenden Einstellungen zu Frau, Kind und Familie von niemandem mehr in Frage gestellt, und sie sind unumkehrbar geworden. Frauen sind den Männern weitgehend gleichgestellt, und trotzdem geht es in heutigen Diskussionen meist um (weitere) Frauenrechte, kaum um Männerrechte und gar nicht um Kinderrechte. 

Natürlich gibt es in der Praxis nach wie vor Benachteiligungen der Frauen, etwa in Einkommensfragen. Darüber hinaus nimmt die Wirtschaft wenig Rücksicht auf familiäre Notwendigkeiten, und die Wahrnehmung familiärer Aufgaben wird beiden Partnern schwer gemacht, den Männern vor allem die Inanspruchnahme einer Karenzzeit. Eventuelle Versorgungsfragen spielen in den Entlohnungsvorstellungen der Arbeitgeber keine Rolle mehr, und das ist mit ein Grund, weswegen immer mehr Familien zwei Einkommen benötigen.

Soviel in aller Kürze zur Geschichte und zum Status quo. In ihren weiteren Ausführungen ging Frau Dr. Walterskirchen auf die großen Probleme ein (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

1. Die Missachtung der Kinderrechte. Heute wird der Kinderwunsch aus verschiedenen Gründen oft spät, nur teilweise oder gar nicht erfüllt. Die Frage der Kinderbetreuung ist dabei wesentlich und der Ruf nach flächendeckenden Kinderbetreuungsstellen, am besten ganztägig und ganzjährig vom ersten Lebensjahr an, rasch zur Hand. Nur dann ist auch die Befreiung der Frau umgesetzt. Aber: wo bleiben da die Kinderrechte, die vielleicht doch lieber bei ihren Eltern sind, und ist das wirklich ein tauglicher Ersatz für die Familie?

2. Die wirklich gute Kinderbetreuung. Eine wirklich gute und flächendeckende Kinderbetreuung ist für keinen Staat der Welt finanzierbar. Und welche Betreuung ist für Kinder wirklich gut? Die Wiener Kinderkrippen haben durchschnittlich 8 und manchmal bis 10 Kinder pro Betreuer. Demgegenüber meinen Kinderpsychologen einhellig, in diesem Alter wird es ab drei Kindern zu einem Problem. „Wir haben also Zustände, die bei dem viel propagierten Ausbau der Betreuungseinrichtungen in Kauf genommen werden. Jeder weiß, dass es nicht gut ist, aber es wird trotzdem gemacht. Ein Riesenproblem, das in der Öffentlichkeit nicht diskutiert, sondern einfach hingenommen wird,“ entlarvt Dr. Walterskirchen die heutigen Gegebenheiten. Die notwendige fixe gleichbleibende Bezugsperson ist am ehesten bei Tagesmüttern gegeben.

3. Die fehlende finanzielle Absicherung. Entscheidet sich eine Frau, zu Hause zu bleiben, ist sie angesichts der gegebenen Scheidungsmöglichkeiten finanziell kaum abgesichert. Die gegenwärtige Gesetzeslage koppelt alle Versicherungsleistungen an eine bezahlte Erwerbstätigkeit. Die durch Haushaltsführung und Kinderbetreuung erwerbbaren Pensionsversicherungszeiten sind zu gering. Nicht erwerbstätige Frauen haben daher ein sehr hohes Risiko der Altersarmut.

4. Die Förderung der Erwerbstätigkeit der Frau (trotz hoher Arbeitslosigkeit). Wie gesagt, der vereinzelte Mensch ist leichter steuerbar. Es mag auch an den Gewerkschaften liegen, die mehr Mitglieder wollen, oder an der Wirtschaft, die in den Frauen billige Arbeitskräfte sehen.

5. Der Erosionsprozess. In Österreich sind Mittlerweile sind 67 % der Frauen erwerbstätig (und 75 % der Männer), davon 47 % in Teilzeit. Die Geburtenrate sank von 1970 bis heute von durchschnittlich 2,7 Kinder auf 1,4. Nur mehr ein Drittel der Familien ist verheiratet. Österreich unterscheidet sich dabei insofern von anderen EU-Staaten, als dieser niedrige Ehe-Anteil trotz eines hohen Religionsbekenntnisses zustande kommt. Das mag mit der österreichischen Sozialpolitik zu tun haben, die unverheiratete Paare bevorzugt. Demgegenüber ist aber anzuführen, dass die Sozialleistungen für Familien insgesamt im europäischen Vergleich recht gut sind. Es kann auch nicht gesagt werden, dass Familien besser sind, deren Eltern verheiratet sind, die Zahlen belegen aber den Erosionsprozess in der Einstellung zur dauerhaft angelegten Familie. 10 % der Familien in Österreich sind Alleinerzieher.

Und der Ausblick? Der Titel der Veranstaltung „Europa ohne Kinder“ war wohl dem Heischen um Aufmerksamkeit geschuldet. Doch auch für ein Europa mit zu wenig Kindern fällt es schwer, ein logisches (dystopisches?) Resultat anzudenken, und das war auch an diesem Abend kein Thema. Unbestrittener Weise sind aber viele der Ursachen für den Erosionsprozess – siehe weiter oben – unumkehrbar geworden. Damit bleibt nur die Hoffnung auf eine markante Änderung in der Familienpolitik. Diese kann – wie manches Beispiel in Europa zeigt – positive Wirkung haben, muss aber – auch angesichts des Beispiels Italien, das innerhalb einer Generation von einem kinderreichen Land zum Schlusslicht in der Geburtenstatistik Europas wurde – mit hohem Einfühlungsvermögen und ideologiefrei erfolgen.

Familie ist etwas Schönes und Notwendiges für die Gesellschaft. Sie ist eine Überlebensversicherung für die nächsten Generationen.

hojos
Im Oktober 2017