Das andere China

Millionenstädte, hoch in den Himmel ragende Wolkenkratzer, verschmutzte Luft – das ist das traditionelle Bild von China. Das Ziel des Ober St. Veiters Dr. Anton Schmoll waren allerdings alte Dörfer, Reisfelder, bunt gekleidete Menschen: das „andere China“ eben. Dies ist sein Reisebericht.
01.09.2016

Abseits der gängigen Reiserouten, fernab von den touristischen Trampelpfaden stoßen wir im Südwesten Chinas auf grandiose Landschaften und faszinierende Kulturen. In diesem Teil des riesigen Landes lebt ein Großteil der über 50 ethnischen Gruppen, die noch nicht allzu viel von ihrer Ursprünglichkeit verloren haben.

Auf der alten Tee- und Pferdestraße unterwegs

Auf den Spuren der alten Karawanen reisen wir auf einem Teil der legendären Tee- und Pferdestraße. In alten Zeiten war das ein ausgedehntes Wegenetz, das die bedeutenden Teeanbaugebiete in Yunnan mit dem tibetischen Hochland verband. Einst wurden auf dieser wichtigen Handelsroute Tee, Salz und Zucker nach Tibet transportiert und im Gegenzug tibetische Pferde nach China gebracht.

In einigen Orten ist die Aura der damaligen Zeit auch heute noch spürbar. Ein Beispiel dafür ist die ehemalige Königsstadt Dali am Ufer des Erhai-Sees, die 1383 während der Ming-Dynastie gegründet wurde. Die Stadt war einst ein kommunikativer Knotenpunkt mit hoher Bevölkerungsdichte. Viele Handelskarawanen kehrten hier ein, das Geschäft blühte, und es herrschte stets buntes Treiben. Die Märkte luden zum Kauf und zum Austausch von Nachrichten ein. Heute ist Dali das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der autonomen Region der Bai.

Die Gegend um den Erhai-See ist berühmt für die Kormoranfischerei, den traditionellen Fang von Fischen mit Hilfe von zahmen Kormoranen. Die Vögel tauchen nach den Fischen, was ihrer normalen Lebensweise entspricht. Durch Ringe oder Schnüre am Hals kurz über dem Rumpf werden sie am Verschlucken größerer Beute gehindert, die sie dann ihrem Besitzer überlassen müssen.

Das andere China. Unterwegs auf der alten Tee- und Pferdestraße. Ein erfolgreicher Kormoranfischer in der Gegend um den Erhai-See. © Hans Gumpinger
<p><b>Das andere China</b></p><p>Unterwegs auf der alten Tee- und Pferdestraße. Ein erfolgreicher Kormoranfischer in der Gegend um den Erhai-See.</p><p><i>&copy; Hans Gumpinger</i></p>

Auf den Spuren der alten Handelsstraßen geht es weiter nach Shaxi am Fuße des Himalayas. Die Stadt hat uns durch das Flair und die alte chinesische Architektur besonders fasziniert. Die kopfsteingepflasterten Karawanenstraßen, die alten Residenzen aus Holz und Stein sowie der prächtige Tempel sind heute noch stumme Zeugen dieser einst florierenden Handelsstadt. Die Geschäfte fanden um den rechteckigen Marktplatz Sideng statt, der heute der einzige vollständig erhaltene historische Marktplatz entlang der Tee- und Pferdestraße ist.

Rund 130 Kilometer von Dali entfernt befindet sich die auf 2.600 Metern gelegene Kleinstadt Lijiang, deren Altstadt seit 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Lijiang ist besonders für die ethnische Minderheit der Naxi und ihre Schrift bekannt. Letztere besteht aus Piktogrammen und wird daher auch zu den Hieroglyphen-Schriften gezählt. Sie ist die einzige Hieroglyphen-Schrift auf der Welt, die noch heute verwendet wird.

Ein ganz besonderes Erlebnis war ein Konzert des berühmten Naxi-Musikorchesters. Die Musiker spielen heute noch auf alten chinesischen Instrumenten wie einst auf dem Kaiserhof. In der Zeit der Kulturrevolution war diese Musik verboten. Die Instrumente konnten nur gerettet werden, weil sie heimlich vergraben wurden. Für sehr große Überraschung sorgte bei uns die Zugabe beim Konzert: Wiener Walzer. Und das, obwohl niemand wusste, dass Gäste aus Wien da waren. Umso erstaunter war der Dirigent, als wir ihm nach dem Konzert mitteilten, woher wir kamen. Es war ein emotional berührendes Gespräch mit dem weit über 80 Jahre alten Mann, der uns von seinem harten Leben erzählte und berichtete, dass er als Kulturinteressierter 21 Jahre lang im Gefängnis saß.

Die Reisterrassen von Longsheng

So wie in vielen asiatischen Ländern bildet auch in China der Reis seit Jahrtausenden die Lebensgrundlage der Menschen. Vorherrschend ist vor allem die Form des Nassreisanbaus. Der ist zwar sehr arbeitsintensiv und mühsam, ermöglicht aber höhere Erträge. Um den Boden optimal auszunützen, befinden sich die Felder nicht nur am flachen Land, sondern auch auf den Bergen. Ungefähr 115 Kilometer nordöstlich von Guilin besuchen wir die berühmten Reisterrassen von Longsheng, die in jahrhundertelanger Arbeit angelegt und von der UNSECO in die Liste der Weltkulturerbe aufgenommen wurden.

Auf gut ausgebauten Steinpfaden wandern wir zu den kleinen Dörfern der Bauern, die zur ethnischen Minderheit des Zhuang-Volkes gehören. Die Reisterrassen von Longsheng wurden über einen Zeitraum von rund 700 Jahren gebaut, und die Bewässerung der Felder funktioniert noch genauso wie vor tausend Jahren. Quellwasser wird durch ein ausgeklügeltes System von Bambusrohren, Kanälen und kleinen Gräben von den obersten Feldstufen bis hinunter auf die tiefer gelegenen Terrassen geleitet.

Teilweise geht es ziemlich steil bergauf. Die höchsten Reisterrassen weisen fast 900 Meter Höhenunterschied auf. Doch die Strapazen halten sich in Grenzen, weil uns das Gepäck teilweise abgenommen wird. Vor allem Frauen mit ihren aus Weide geflochtenen Körben haben hier als Gepäckträger eine lukrative Einnahmequelle gefunden. So erreichen wir eine der höchstgelegenen Reisterrassen der Welt, die uns einen atemberaubenden Rundblick bietet. Wir übernachten in einem der alten Häuser des Dorfes.

Das andere China. Die Reisterrassen von Longsheng © Dr. Anton Schmoll
<p><b>Das andere China</b></p><p>Die Reisterrassen von Longsheng</p><p><i>&copy; Dr. Anton Schmoll</i></p>

Am nächsten Morgen bekommen wir noch eine Vorführung der „Frauen mit den langen Haaren“: Bei besonderen Festen wird das seit Generationen vererbte Haupthaar der Ahnen in das Haar der jungen Mädchen hineinverflochten, das nun einen bis zu zwei Meter langen Zopf ergibt.

Über die Wind- und Regenbrücken

Über sehr holprige Straßen und vorbei an vielen Großbaustellen geht es weiter nach Sanjiang. Hier lebt die Minderheit der Dong. Eine der kulturellen Besonderheiten dieser Volksgruppe sind die sogenannten Wind- und Regenbrücken, die den Reisenden sicher und vor Wind und Regen geschützt von einem Ufer des Flusses zum anderen bringen. Jedes Dorf hat hier so eine Brücke, die gänzlich ohne Metall gebaut wurde. Besonders imposant ist die Brücke von Chengyang. Sie wurde 1916 fertiggestellt, für den Bau sollen die Dorfbewohner fast zehn Jahre benötigt haben. Insgesamt misst sie 76 Meter in der Länge und weist fünf aufwendig gestaltete Pavillons mit je vier Dachebenen auf.

Diese Wind- und Regenbrücken sind ein beliebter Treffpunkt der Männer, um nach der Arbeit Karten zu spielen und zu plaudern. In der heißen und schwülen Jahreszeit verschafft das darunter fließende Wasser angenehme Kühle, und die Bänke auf den Brücken werden dann gerne als Schlafplatz zum Entspannen benützt.

Das andere China. Über die Wind- und Regenbrücken: die Brücke von Chengyang. © Dr. Anton Schmoll
<p><b>Das andere China</b></p><p>Über die Wind- und Regenbrücken: die Brücke von Chengyang.</p><p><i>&copy; Dr. Anton Schmoll</i></p>

Eine weiteres Wahrzeichen der Dong-Siedlungen sind die Trommeltürme. Sie sind achteckig und haben fünf bis elf Stockwerke. Früher dienten sie als Wachtürme. Durch das Schlagen der Trommeln wurden die Bewohner vor drohenden Gefahren gewarnt. Heute sind diese Türme, die je nach Größe zwischen 100 bis 200 Menschen Platz bieten, ein zentraler Ort für Versammlungen und Veranstaltungen.

In einem kleineren Dorf können wir eine ganz besondere Verwendung dieser historischen Einrichtungen beobachten: Die Söhne, die weit weg in den Großstädten arbeiten, haben für ihre alten Eltern einen Fernsehapparat gekauft und unter dem Trommelturm aufgestellt. Aufmerksam und gespannt verfolgen nun die betagten Menschen die Geschehnisse auf dem Bildschirm. Quasi „ein Altersheim im Freien“. Und die Bewohner vom Nachbardorf müssen um Erlaubnis fragen, wenn sie sich etwas ansehen wollen.

Auch Bernhard Brenner, der Initiator und Organisator dieser speziellen Fotoreise, hat für die Älteren des Dorfes eine Überraschung parat: Er war vor zwölf Jahren sehr lange alleine in diesem Gebiet unterwegs und hat etliche Freundschaften geschlossen. Jetzt hat er einen Stapel Fotos von dieser Reise mitgebracht. Freude und Lachen lösen jene Bilder aus, auf denen sich die alten Menschen wiedererkennen.

Beim Drachenbootrennen der Miao

Mit fast sechs Millionen Menschen sind die Miao die fünftgrößte Minderheit in China. Nach ihren Vorstellungen ist die Welt von Naturgeistern beseelt, die das Schicksal des Einzelnen wie das der Gemeinschaft bestimmen. Daher hat der Naturschutz im Gegensatz zum übrigen China bei ihnen einen großen Stellenwert. Nach dem Tod gibt es keine Höhlengräber. Bei der Geburt und beim Tod eines Menschen pflanzen sie Bäume und begraben dort die Toten, ihre Ahnen leben weiter.

Wasserbüffel spielen in diesen Regionen eine große Rolle. Und wir freuen uns, wenn wir so einen „BMW“ sehen – einen Bauer mit Wasserbüffel, der wie eh und je mit dem Pflug seine Reisfelder bearbeitet. Früher hatte jedes Dorf einen eigenen Festtagsbüffel für das alljährliche Neujahrsturnier. Der Bulle stand in einem prächtigen Stall und wurde von eigenen Dienern bewacht, die ihn auch fütterten.

Bei festlichen Anlässen tragen die Frauen einen gewaltigen Kopfschmuck aus Silber, der Hörner zeigt, die denen eines Wasserbüffels ähneln. Ihre Kostüme sind mit reichen, aus Silber gefertigten Verzierungen geschmückt und wiegen bis zu 22 Kilo.

Im Dorf Shidong in der Nähe der Stadt Huangping erwartet uns ein ganz besonderes Erlebnis: das Drachenbootrennen der Miao. Aus allen Dörfern der Umgebung sind die Menschen hierher geströmt, alle feiern in ihrer traditionellen Kleidung – ein Eldorado für Fotografen. Es gibt fast nirgends ein Problem, die Menschen zu fotografieren. Bereitwillig posieren die Schönheiten für uns Fotografen. Und als Danke wollen sie Fotos mit uns machen. Durch die Größenunterschiede entstehen lustige Bilder, denn die zierlichen Mädchen gehen den größten von uns nicht einmal bis zur Schulter.

Wir sehen unzählige Menschen, die mit Gänsen in der Hand unterwegs sind. Gänse sind ein Symbol für lange Freiheit, da sie früher keine Haustiere waren. Sie gelten als Herrscher über Wasser, Land und Luft und werden den Bootsmannschaften als Geschenk überreicht, da sie ihnen Glück bringen sollen. Immer wenn eine Gans gespendet wird, geht ein Feuerwerk mit lauten Knallkörpern und viel Rauch los.

Mit dem Kopf nach unten hängen dann die armen Geschöpfe vorne an den langen, offenen Ruderbooten, die Drachenboote genannt werden. Denn durch die Art der Bemalung und der Schnitzarbeiten sowie einen dekorativen Drachenkopf und -schwanz stellen sie einen stilisierten Drachen dar. Elf Boote aus verschiedenen Dörfern sind heute am Rennen beteiligt, jeweils zwei treten gegeneinander an. Bis zu 70 Ruderer stehen auf diesen Booten, ein Trommler gibt den Rhythmus vor. Es herrscht fröhliche und ausgelassene Jahrmarktstimmung. Berührungsängste oder Platzangst darf man bei so einem Trubel aber nicht haben. Aber auch das gehört zum „anderen China“ dazu.

Das andere China. Beim Drachenbootrennen der Miao. © Dr. Anton Schmoll
<p><b>Das andere China</b></p><p>Beim Drachenbootrennen der Miao.</p><p><i>&copy; Dr. Anton Schmoll</i></p>

Quellen:
Dr. Anton Schmoll

Übertragen von hojos
am 1. September 2016