Die Briefmarken des Onkels

Aus der Sammlung der Erzählungen des Wiener Heimatdichters J. Vinzenz unter dem Titel: „Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt“.
1956

Ich ging in die Volksschule, meine Mutter „ins Nähen“ und das Leben seinen alltäglichen Gang. Der Vater war gestorben. und die Mutter brachte uns zwei mit ihrer Hände Arbeit recht und schlecht durch. Der Stolz meiner Mutter waren ihre beiden Brüder. Der eine lebte als pensionierter Hauptmann in Graz. der andere als Brauhausdirektor irgendwo im Lande. Wenn die Mutter vom Grazer Onkel sprach, dann tat sie dies beinahe ehrfürchtig. Vom zweiten wusste sie, dass er mehr Gänse und Enten zu essen hatte als wir Brot. Das schöne an der Sache war, dass der Geflügelverzehrer sich hütete, uns seinen Wohnort zu verraten.

„Bub, sei brav und lern fleißig, dass der Grazer Onkel keine Schand an dir erlebt. Er wird dir einmal helfen!“ Zum Überdruss musste ich dies von der Mutter anhören. Mir waren aber beide Onkel gleichgültig. Ich hatte im Hause einen Freund, den alten Haselmeier. Er war ein berühmter Krautschneider, Waldgeher und Vogelfänger und nahm mich auf seine Waldgänge mit.

So wuchs ich allmählich heran, und mehr als sonst sprach die Mutter, dass jetzt bald die Zeit kommen würde, in der die Hilfe des Grazer Onkels zu erwarten wäre. Der war als junger Offizier unter Radetzky In Italien gewesen, und meine Mutter besaß eine Menge Briefe, die er von dort an sie geschrieben. Diese Briefe hütete sie wie ein Heiligtum. Oft las sie mir daraus vor, mich aber interessierten bloß die bunten Marken auf den Briefumschlägen.

Ich sollte jetzt die Schule verlassen. Der vornehme Grazer Onkel hatte schon längst nichts mehr von sich hören lassen. Eines schönen Tages waren ich und der alte Haselmeier wieder im Wald. Wir saßen am Waldesrand, der Alte stopfte sich besinnlich seine Pfeife und dabei fragte er so nebenbei:
„Bua, hast d schon amal drüber nachdenkt, was d werdn willst?“
„Am liebsten würde ich auch ein Waldgeher und Vogelfänger“, sagte ich. Der Alte schüttelte den Kopf und sprach ernst:
„Aber, Bua, das is ja gar ka Hindenkn auf so was! Du musst a bravs Handwerk lernen!“
Ich meinte, der Grazer Onkel würde mir helfen und ich werde ihn fragen, was ich tun solle.
„Schlag dir das ausm Kopf, Bua. Dein Onkel lebt mit seiner Familie von seiner Pension, und da hat er nix übrig für dich!“

Ich glaubte dem Krautschneider nicht und schrieb, ohne dass meine Mutter davon wusste, dem Onkel nach Graz. Und wartete. Wirklich kam nach einigen Tagen die Antwort. Und zwar nach dem bekannten Ausspruch: „Keine Antwort ist auch eine Antwort.“ Als nämlich die Mutter, freudig erregt, den Briefumschlag öffnete, fiel - mein Schreiben heraus. Sonst nichts . . .

Mutter nahm jetzt einen Brief von ihrem Bruder, den er seinerzeit aus Italien geschrieben, und verglich die Schriftzüge auf beiden Umschlägen.
„Das hat der Onkel nicht geschrieben“, erklärte sie dann.
„Na“, sagte ich, „dann hat eben die Frau Tant den Brief in die Hand bekommen und auf ihre Weise beantwortet.“
Steckte den Brief in die Tasche, um ihn dem alten Haselmeier zu zeigen. Bei ihm sah ich, dass ich irrtümlich den alten Brief erwischt hatte.
„Bua, hab ich dir nicht gleich gsagt, dass auf dein Onkel ka Verlass is?“ murmelte der Alte und blickte dabei den Briefumschlag an.
„Aber, pass auf, das san italienische Marken aus der Zeit, als Venetien noch uns ghört hat. Geh zu dem alten Herrn in d Rosenvilla. Der is a Sammler von solche Markn. Vielleicht gibt er dir a paar Kreuzer.“

Als ich dem Markensammler in der Rosenvilla den Briefumschlag hinhielt, ergriff er ihn sofort und sprach: „Ich gebe dir für das Kuvert einen Gulden!“
Ich sagte dem Herrn, meine Mutter hätte einen ganzen Haufen solch alter Briefumschläge, da nahm er flugs Hut und Stock und lief mit mir.

Meine Mutter war sehr erschrocken, als ich sie aufforderte, die alten Briefe herzuzeigen. Ein Dutzend davon hatte der Herr aus der Rosenvilla beiseite gelegt, dann zwei nagelneue Zehnguldenscheine herausgenommen und zur Mutter gesagt: „Wenn Sie mir die Briefumschläge lassen, gehört das Geld Ihnen!“

Die Mutter willigte selbstverständlich ein, hatte es sich aber nicht nehmen lassen, dass der alte Herr total verrückt wäre. Sie hat den ganzen Tag über in der Angst gelebt, den Herrn könnte der Kauf reuen, er werde zurückkommen und sein Geld verlangen. Dies ist natürlich nicht der Fall gewesen; als sich meine Mutter wieder beruhigt hatte und den Reichtum - und für uns arme Leute war es einer - betrachtete, da sagte sie: „Schau, der Grazer Onkel hat uns doch geholfen!“

Ich wollte sie nicht kränken und habe zustimmend genickt. Und bin dann meinen Lebensweg ohne die Hilfe des vornehmen Onkels gegangen.

Hinweis: Bei der Neuordnung Europas wurde auf dem Wiener Kongress 1815 aus den ehemaligen habsburgischen Herzogtümern Mailand und Mantua und dem Gebiet der Republik Venedig das Königreich Lombardei - Venetien gebildet und von den österr. Kaisern in Personalunion geführt.
Im Gegensatz zu den anderen österr. Ländern herrschte hier die Silberwährung. Bis 1858: 100 Centesimi: 1 Lira; ab 1858 100 Soldi: 1 Florin. Münzen und Briefmarken (siehe oben die Marken zu 5, 10 und 15 Centesimi bzw. 5 Soldi) mußten daher in dieser Währung herausgegeben werden. Das Markenbild war gleich, die Währung angepasst.
Nach dem Krieg gegen Sardinien-Piemont und Frankreich musste 1859 die Lombardei und 1866 auch Venetien an das neugeschaffenen Königreich Italien abgetreten werden.

Quellen:
"Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt":
Briefmarken und Hinweis: Felix Steinwandtner, Bezirksmuseum Hietzing.

zusammengestellt von hojos
Februar 2003