E-Mail an Herrn Peter Michael Lingens

03.10.2006

Sehr geehrter Herr Lingens!

Die Lektüre der meisten Medien dieses Landes und als Profil-Abonnent natürlich besonders des Profil stimmt mich zunehmend nachdenklich. Beim Lesen der wirtschaftlichen und politischen Kommentare wird diese Nachdenklichkeit zu Unbehagen, beim Studium speziell Ihrer Beiträge zum Ärger. Ich denke da an Ihre „Bekenntnisse als Nichtwähler“ und an “Schüssels Selbstdemontage“.

Um meine Kritik vorwegzunehmen: Österreichs Politik scheint fatale Wege einzuschlagen, Sie jedoch quittieren das mit banalem Geschreibsel.

Natürlich wertet jeder Mensch die Nöte anders und auch ich habe eine Art „Prioritätsliste“. Zur Vereinfachung fasse ich sie in drei Gruppen zusammen:

Priorität 3 – Ärgerlich, aber von eher geringer Tragweite. Sie sind unvermeidliches Beiwerk menschlichen Handelns: Auch Politiker sind Menschen wie du und ich.
Priorität 2 – Besorgniserregend und konsequent zu bekämpfen.
Priorität 1 – Angst machend, denn sie können die Grundfesten des Staates erschüttern.

Darf ich Ihnen aus dieser Liste ein paar Beispiele nennen?

Priorität 3:

Täglich wird man damit konfrontiert, denn die Nachrichten kennen fast nur diese Ebene. Das tägliche Geplänkel der Politiker, primitive Fragen der Journalisten, keine Antworten auf die einfachsten Dinge.

Dazu zählen für mich aber auch die denkbaren Koalitionen, denn die Ausgrenzung einer legalen Partei durch andere Parteien, die für sich das Gutmenschentum gepachtet zu haben glauben, halte ich für unsinnig und chancenlos. Wiederbetätigung ist natürlich konsequent zu bekämpfen, aber man kann nicht jeden Sager, nur weil er einem nicht passt, kriminalisieren.

Natürlich haben manche Parteien zu wenig taugliches Personal, und es ist sehr ärgerlich, wenn etwa im Verkehrsministerium die dauernden Umbesetzungen Projekte verzögern und verteuern oder man über unsere Mandatare lacht. Aber so ist es halt, wenn neue Parteien in die Verantwortung genommen werden, sie haben keine Routiniers. Aber die Vorbilder aus den etablierten Parteien glänzen auch immer schwächer.

Abgebrüht wie ich bin, nehme ich das alles und noch viel mehr relativ locker.

Priorität 2:

Ich bin zwar gelernter Österreicher, den Proporz daher gewohnt und in die Sozialpartnerschaft verliebt. Der in dieser Grundhaltung beheimatete Postenschacher ist aber trotzdem eine Form der Korruption und nervt. Aber was soll man erwarten in einer Gesellschaft der weitgehend akzeptierten Parteibuchwirtschaft, der salonfähig gewordenen Seilschaften (man bezeichnet sie halt als Netzwerke), in einer Gesellschaft, in der Steuerhinterziehung und Versicherungsbetrug als Kavaliersdelikt gelten. Was der Durchschnittsbürger im Kleinen, macht die Elite im Großen. Etwas anderes ist nicht zu erwarten, schon gar nicht, wenn alle moralischen Instanzen an Gewicht verlieren.

Auch die allseits genannte Bildungsmisere ist hier einzureihen. Sie wird zwar allgemein auf Schlagworte wie Gehrer, Gesamtschule, Klassengröße, desolate Unis und irgendwelche untauglichen Leistungsvergleiche reduziert, Grundproblematiken wie die Zerstörung der Neugier im Kind und der geringe Stellenwert aller an der Sozialisierung und Bildung beteiligten, von der Familie bis zum Lehrer, meist ausgeklammert.

Aber Angst macht mir das nicht, daher steht’s in dieser Kategorie.

Die zunehmende Rechtsunsicherheit im Lande, die sich in so vielen Interessens- oder Anlassgesetzen manifestiert darf nicht unerwähnt bleiben. Was soll man halten von einem Land, das das 2. Pensionsstandbein propagiert, bei erster Gelegenheit aber das Gesetz zum Nachteil der Veranlagten ändert? Glaubt man denn, das Vertrauen in diesem langfristigsten aller Themen keine Rolle spielt? Das ist nur ein kleines Beispiel zum Thema Rechtssicherheit, aber was soll’s, diese Dinge trafen mich bisher nur wirtschaftlich und ich hoffe, dass das so bleibt.

Ich spare die vielen anderen Unzuglänglichkeiten meiner Priorität 2 aus, die ärgerlich und womöglich verheerend sind, mir aber nur wenig Angst bereiten.

Priorität 1:

Was macht mir wirklich Angst? Alles, was den souveränen Rechtsstaat, in dem ich lebe und der mir Heimat ist, bedroht. Was bedroht ihn?

Zunächst die unüberbrückbar scheinenden Gegensätze, die trotz unseres Wohlstandes Österreichs linke und rechte „Reichshälften“ trennen, einem unüberbrückbaren Graben gleich, der sich durch alle politischen Hierarchieebenen zieht. Alle Kräfte blockieren sich gegenseitig und wann immer möglich wird gegenteilig gehandelt. In ihrer Unversöhnlichkeit erinnern mich die einzelnen Funktionäre schon fast an die Zwischenkriegszeit. Im Gespräch mit Zeitzeugen hat es mich immer wieder erschreckt, wie Menschen einander stigmatisieren können. Aber ich konnte mir das noch erklären, schließlich ging es damals um Existenzfragen, die auch bewaffnet ausgetragen wurden. Aber warum spüre ich diese unglaublich tief sitzende Abneigung heute noch? Sind es wirklich unvereinbare Weltanschauungen die hier aufeinander prallen? Oder sind es doch nur die üblichen Gegensätze konkurrierender Parteien, die aus unverständlichen Gründen hochgespielt werden?

Und dann macht mir diese verantwortungslose Grundhaltung Angst, mit der internationale Verträge locker und öffentlich in Frage gestellt werden. Damit meine ich nicht den Umstand an sich – die Verträge können ja tatsächlich nachteilig, vielleicht sogar unrechtmäßig sein –, sondern die Art und Weise, in der das geschieht: Ganz offensichtlich nicht in der Sorge um das Land, sondern als Hebel gegen den politischen Gegner. Den betreffenden Parteien scheint die Souveränität des Landes „wurscht“ zu sein und die damit untrennbar verbundenen polizeilichen Aufgaben in der Luft eine Nebensächlichkeit (die Berufung der anderen Seite auf den Staatsvertrag ist übrigens genauso jämmerlich). Der Slogan „Unis ohne Studiengebühr oder Abfangjäger“ ist meines Erachtens nicht minder verwerflich als „Daham statt Islam“.

Und damit sind wir schon beim nächsten Punkt, der mich ängstigt: Vereinfachende Stellungnahmen zum Thema FPÖ, so wie die Ihre: Es braucht bloß ein „Fescher, junger Nationaler“ aufzutauchen und „Ausländer raus“ zu rufen, und durch „Erfahrung absolut nicht klüger“ werdende leisten ihm Gefolgschaft. Eine in ihrer Ignoranz wirklich nicht zu überbietende Meinung. Es gibt sicher Wähler mit diesem Motiv. Aber es gibt sicher auch andere, die sich zum Beispiel in ihrem Wunsch nach einer verantwortungsvollen Einwanderungspolitik sträflich vernachlässigt fühlen und als fremdenfeindlich, ja sogar rassistisch verunglimpft werden, wenn sie sich artikulieren. Solche Menschen, die das Fernbleiben von den Urnen ablehnen, sehen sich zu einem anderen Signal gezwungen: Sie wählen radikalere Parteien trotz und nicht wegen ihrer Führer. Gewiss, ein gefährliches Spiel, verschuldet aber vor allem von den so genannten „seriösen“ Parteien, die eine ganz offensichtlich gegebene Unzufriedenheit völlig ignorieren. Denn ich glaube schon, dass man jedem Bürger eine Lebensumgebung zugestehen soll, in der er sich wohl fühlt, und die Bürger aller Länder haben da ziemlich ähnliche Vorstellungen.

Leider ließe sich auch die Liste erster Prioritäten weiterführen. Aber worüber mokieren Sie sich, Herr Lingens? Dass die ÖVP (so plötzlich) eine restlos unglaubwürdige Partei geworden ist weil Schüssel einen „Weisel“ von Strache bekam und ganz Österreich dem Schüssel die Neuauflage einer wahnwitzigen Konstruktion zutraut (deren erste Auflage Sie als gekonnten Coup bezeichnen). Und wen loben Sie? Der Obmann der SPÖ, den sie vor kurzem völlig abqualifiziert haben, soll jetzt plötzlich „sachlich, vernünftig und kompromissbereit“ sein, nur weil er einigermaßen konsequent auf sein einzig mögliches Ziel, die große Koalition, zustrebt. Ihr Schluss, dass die große Koalition keine unbrauchbare sein muss, sondern eine überraschend erfolgreiche Regierungsform sein kann, ist dann schon von fast rührender Weitsicht.

Alles wird personifiziert und zu jeder Person haben Sie eine fixe Meinung, die kann aber in einer Woche schon wieder eine ganz andere sein. Ganz wie bei der Frau Kaslaberl von der Fünferstiege. In den wesentlichen Dingen geht es aber nur selten um die Befindlichkeit einzelner Personen, sondern um die wahren Motive der relevanten Machtblöcke.

Zu deren Enthüllung tragen Sie aber herzlich wenig bei.

Josef Holzapfel

hojos
3. Oktober 2006